Das Schloß der blauen Vögel
Kriminalrat Quandt berichtete Dorian in kurzen, hastigen Worten, was bisher geschehen war.
»Er verlangt nach Ihnen! Sie sind der einzige, der hier noch etwas retten kann! Wir wissen nicht, wieviel Menschen noch im Haus sind. Sassner sagte: Die Klinik ist voll belegt! Mit Sicherheit ist Frau Sassner im Haus.« Quandt zuckte zusammen und stieß den Arm vor. »Da … sehen Sie. Sassner und seine Frau!«
Dorian drückte seine Brille näher an die Augen.
Im Fenster zur Straße stand Sassner und breitete die Arme dem Himmel entgegen. Hinter ihm stand Luise und streichelte seinen zuckenden Kopf. Es war der Augenblick, in dem Sassner seinen entfliegenden blauen Vögeln nachschrie.
»Er ist es wirklich«, sagte Dorian. Es klang wie eine Laborfeststellung: Was da im Mikroskop flimmert, ist tatsächlich ein Virus.
»Natürlich ist er es! Was wollen Sie nun unternehmen, Herr Professor?«
»Ich werde mit ihm seine Operation durchsprechen.« Dorian winkte Angela zu. »Meine Tasche, bitte.«
Angela reichte ihm eine dicke, mehrfächerige Tasche. Ihr entnahm Dorian seinen berühmten kurzen weißen Chefkittel und zog ihn an. Angela knöpfte ihn hinten zu.
»Ich werde ihn verblüffen«, sagte Dorian ruhig. »Mit meinem Kommen hat er gerechnet – Sie haben mich ja avisiert, Herr Rat. Aber wie ich komme, das ahnt er nicht. Man muß die Wünsche der Kranken ahnen, das ist eine wichtige Voraussetzung für den Kontakt mit den Geisteskranken. Sehen oder fühlen sie, daß man ihre geheimen Wünsche kennt, werden sie wie Kinder vor dem Weihnachtsbaum. Sehen Sie mal her …«
Dorian holte aus der Tasche seine Operationskappe und das Mundtuch. Er streifte seine Gummihandschuhe über, während ihm Angela die Kappe aufsetzte und das Mundtuch locker umband. Dorian ließ es über das Kinn rutschen, bereit, es sofort wieder vor den Mund zu ziehen.
»Ein Glück, daß niemand von der Presse hier ist«, sagte Quandt sarkastisch. »Das gäbe eine Reportage! Für die Saure-Gurken-Zeit fast so gut wie das Ungeheuer vom Loch Ness.« Er betrachtete Dorian zweifelnd. »Sie meinen, das hilft?«
»Ich bin fest davon überzeugt. Sassner wird begeistert sein. Und nun los!«
»Halt!« Quandt hielt Professor Dorian am Kittel fest. »Nehmen Sie wenigstens eine Pistole mit.« Quandt griff in seine Tasche, aber Dorian schüttelte den Kopf. Er hob seine große Ledertasche hoch.
»Das ist meine Pistole. Operationsbesteck, Spritzen, Medikamente. Mit einer Pistole kann ich nicht umgehen, wohl aber mit einer Injektionsnadel!«
Quandt kamen nun große Bedenken. Er sah Dr. Keller an und blinzelte ihm zu. »Ich kann Sie doch nicht ungeschützt zu dieser Bestie lassen!« sagte er eindringlich. »Nehmen Sie Doktor Keller mit. Ich bitte Sie …«
»Ja, Paps. Bitte …« sagte auch Angela. Dorian schüttelte wieder den Kopf.
»Er wird Doktor Keller nicht akzeptieren.«
»Machen Sie ihm klar, daß zu komplizierten Operationen ein ganzes Team gehört!« rief Quandt.
»Das weiß er selbst. Aber er zählt sich zu den Genies, die es allein können. Nur mich wird er noch hinzuziehen … alle anderen sind für ihn eine Gefahr.« Dorian trat den ersten Schritt hinaus aus dem Walddunkel in die rötliche Abendsonne. »Bitte, Herr Rat, unternehmen Sie nichts, wie lange es auch im Haus dauern mag. Werden Sie nicht ungeduldig! Eine Hirnoperation dauert bis zu fünf Stunden … und hier geht es um mehr als um einen Tumor oder ein Hämatom …«
Während die Polizisten, Dr. Keller und Angela im Schatten der Bäume blieben und der Hubschrauber die Straße hinunter gerollt war, ging Dorian ruhig und langsam, seine Tasche in der Hand, dem Haus entgegen. Die Abendsonne übergoß seinen weißen Kittel wie mit fahlem Blut.
Vom Haus schallte ihm ein Jubelschrei entgegen. Sassner beugte sich aus dem Fenster und winkte mit beiden Armen. Er war unendlich glücklich, sein Herz zuckte vor Freude, er hätte weinen können vor Glück.
»Herr Professor!« rief er. »Sie sind gekommen! Sie beehren mich wirklich mit Ihrer Gegenwart! Sie haben alle meine Briefe bekommen!«
»Alle!« Dorian blieb unter dem Fenster stehen. Sassner hing mit dem halben Oberkörper aus dem Fenster. Hinter ihm stand Luise mit gefalteten Händen, als bete sie.
Die letzten Minuten. Das Ende von zwanzig Jahren Glück.
Mein Gott, ich danke dir für jede Minute mit diesem Mann, als er noch Gerd Sassner war …
»Ihre Berichte waren ungemein interessant, Herr Kollege«, sagte Dorian mit ruhiger, aber
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