Das Schloß der blauen Vögel
eingeholt … die letzten Arbeiten waren fünf.« Dabei lachte er, ein bißchen hohl, eine Spur hysterisch. Er klopfte Andreas auf den Rücken. Der Junge zog die Schultern hoch und starrte hinüber zur Mutter. Angst schrie aus seinem Blick.
»Ich habe große Pläne«, fuhr Sassner fort seinem Freund Benno Berneck zu erzählen. Er hatte den alten, zerrissenen Schuh wieder vors Haus getragen und in Dorles Liegestuhl gesetzt. »Andreas wird die Fabrik übernehmen, Dorle hat Lust, Ärztin zu werden. Was hältst du davon, wenn ich ihr später eine eigene Privatklinik einrichte? Damit kann man Geld machen. Kosmetische Chirurgie und ähnliches. Verkleinerung einer Riesenbrust dreitausend Mark, das ist doch ein Geschäft!«
Er lachte wieder, blinzelte dem Schuh zu und benahm sich so, wie sich Männer benehmen, wenn sie harte Witze erzählen.
»Geht ins Haus«, sagte Luise heiser, als sie sah, wie Dorle nicht mehr die Kraft aufbrachte, ohne lautes Weinen die schreckliche Wandlung ihres Vaters zu ertragen. »Paps … Paps wird schon wieder gesund werden. Die Nerven, müßt ihr wissen …«
Bis zum späten Abend saß sie neben ihm auf der Bank und hörte zu, wie Sassner mit dem Schuh Kriegserinnerungen austauschte. Man ging sogar eine Stunde lang spazieren, den Schuh zwischen sich, und Sassner zeigte ihm den Bach, die herrliche Aussicht über den Schwarzwald, sie bewunderten das Abendrot, das die Spitzen der Tannen erst golden, dann rot, schließlich violett färbte und den Himmel brennen ließ in unendlicher Herrlichkeit.
In der Nacht schliefen sie kaum.
Sassner hatte seinen ›Freund‹ ins Bett gebracht, ihm einen guten Schlaf gewünscht, eine Flasche Sprudelwasser ans Bett gestellt – »Benno hat die dumme Angewohnheit, nachts ein paarmal zu trinken, selbst im Unterstand tat er das, immer hatte er eine volle Feldflasche neben sich in der Miefkoje« – und dann mußte die Familie leise sein, sich ausziehen und ebenfalls ins Bett gehen. »Benno hat einen leichten Schlaf … und er ist so müde von der langen Reise zu uns …«
Als tiefe, regelmäßige Atemzüge zeigten, daß Sassner zufrieden schlief, kroch die Familie aus ihren Schlafkojen und traf sich in der Küche. Dorle weinte haltlos und legte den Kopf schluchzend auf den Tisch. »Was hat er bloß?« stammelte sie. »Ma, was ist mit Paps denn los? Das kann man doch nicht aushalten. Ist es denn am Morgen vorbei?«
Andreas schwieg. Er sah nur stumm die Mutter an, aber in seinen Augen lag ganz in der Tiefe die furchtbare Wahrheit, die niemand auszusprechen wagte, die nicht begreifbar war, vor der man flüchtete, auch wenn es keinen Sinn hatte. Luise legte die Arme um ihre Kinder und zog sie an sich.
»Wir müssen tapfer sein, ganz, ganz tapfer«, sagte sie. »Natürlich ist es nur vorübergehend. Morgen, zu Hause, wird alles anders sein.«
Aber es wurde nicht anders.
Gerd Sassner hatte sich äußerlich nicht verändert. Er war der vitale, breitschultrige Erfolgsmensch geblieben, ein Mann, der gern lachte, der Ideen hatte, der vor Gesundheit strotzte, der ein zärtlicher Vater war und der über alles sprechen konnte, was zwischen Himmel und Erde war. Nur war er jetzt immer in Begleitung seines Freundes Benno Berneck. Ein alter Schuh begleitete ihn von dieser Stunde an.
Er bekam im Wagen den Sitz neben Sassner. Luise mußte hinten zu den Kindern. Auf der Rückfahrt erklärte Sassner die Landschaft, erzählte von seiner chemischen Fabrik … Als sie vor der Villa hielten, die sich Sassner vor vier Jahren gebaut hatte, und das Hausmädchen herauslief, um das Gepäck zu holen, gelang es Luise gerade noch rechtzeitig, das Mädchen abzudrängen und mit den langen Gummistiefeln wegzuschicken, ehe Sassner den alten Schuh vom Sitz nahm und mit einer weiten Handbewegung sagte: »Mein Reich … solange du Zeit hast, Benno, kannst du bei mir wohnen …«
Das war morgens um zehn Uhr. Um elf fuhr Sassner in die Fabrik, der Chauffeur holte ihn mit dem großen Werkswagen ab. Für zwölf Uhr war ein Essen mit ausländischen Interessenten angesetzt, die einige Lizenzen von Sassners Präparaten übernehmen wollten.
»Wo ist Benno?« fragte Sassner in der großen Diele seiner Villa. Der Chauffeur stand in der offenen Glastür und sah sich entgeistert um. Luise stockte der Atem. Das ist unmöglich, schrie es in ihr. Das muß verhindert werden. Soll alle Welt erfahren, wie es um ihn steht? Aber wie kann man es verhindern? Wer hat die Kraft, Gerd Sassner aufzuhalten?
»Benno
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