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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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Zwischen den Baumkronen lugte der Giebel des Schützenhauses hervor.
    Das Schützenhaus also stand noch. Ein Haselnußgebüsch trennte mich von Hof und Wiese. Ich hörte Stimmen, trat näher. Vorsichtig bog ich die Zweige auseinander. Anneli und Isabella saßen auf Stühlen in der Sonne, in bunten Kleidern. Das Muster der Kleider erinnerte an die Tischdecken aus der Gaststube. Auf Isabellas Knie ritt ein kleiner Junge. Sie war also gerettet worden in jener Nacht, als die Luftmine auf das Krankenhaus gefallen war, und augenscheinlich hatte die Norne ihr Kind auf dem Schoß.
    Ich hörte deutlich Annelis Stimme, es war eine Art Sprechgesang:
    »Der Bräutigam kam gefahren mit siebenundsiebzig Wagen, der erste war mit Gold beschlagen, darin sollt’ unser Luischen fahren. Sie fahren wohl über die Brücke, Luischen saß in der Mitte; da kam ein großer Sturm daher und warf Luischen in das Meer. Der Wagen war versunken, Luischen war ertrunken. Da hatte ihr Vater keine Luise mehr, die Mutter weinte gar so sehr.«
    Anneli sah dabei das Kind an.
    Wie soll ich die nächsten Augenblicke schildern? Als ich um den Haselnußbusch herum auf den freien Platz trat, sahen mich die beiden erstarrt an. Das Kind begann zu schreien. Dann sprangen Anneli und Isabella auf, die Stühle kippten um, sie rannten auf mich zu, die Norne ihr Kind unter dem Arm. Anneli fiel mir um den Hals, Tränen liefen uns übers Gesicht. Isabella legte das Kind auf die Erde und schlang ihre Arme um uns beide. Neben dem Kind, das jetzt mit aller Kraft brüllte, fielen wir miteinander ins Gras. »Hansi«, schrie Anneli ein ums andere Mal. Sie küßte mich, wohin es traf, bis ich sie – die Handhabe bot sich an – an den Ohren festhielt. »Ist alles in Ordnung?« sagte ich. Anneli und die Norne nickten. Ich deutete aufdas brüllende Kind. »Deins?« Die Norne nickte wiederum. Mich an den Sprechgesang erinnernd, fragte ich: »Luischen?«
    Die beiden Frauen lachten und wanden sich in ihren Tischdeckenkleidern. »Ein Junge«, sagte Isabella, »weißt du nicht mehr, daß er Stefan heißt?« Das hatte ich einen Augenblick lang vergessen.
    Nun kam Tante Deli aus dem Haus gelaufen, wischte sich im Galopp die Hände an der Schürze ab, und hinter ihr schuffeite Lydia in ihrem Serpentinengang. Über die Wiese, sah ich mit einem Auge, kamen mein Vater und Joachim. Alle stürzten auf diesen Fleck Wiese, auf mich, auf uns drauf, Isabellas Kind brüllte und brüllte, Stimmen riefen »Hansi«. Gegen den Horizont sah ich Lydia stehen. Sie rang die Hände, und Tränen liefen ihr die Wangen herab.
    Tränen, Haare, die mein Gesicht wie Vorhänge umwehten. Dann das Geschrei größerer Kinder, nicht dieses Babygreinen. Wir wollten aufstehen, aber Helga und Horst rissen uns wieder ins Gras. »Was hast du für einen ekligen Anzug an?« fragte Helga. Horst wollte wissen, ob ich Pilot geworden sei. »Ja, ja, nein, nein«, sagte ich, auch alle anderen stellten Fragen. Horst und Helga riefen dazwischen, sie seien in der Oberschule und lernten Russisch.
    »Russisch?« fragte ich. »Ja, ja, nein, nein«, riefen nun die anderen. Und Isabellas Kind brüllte. Es brüllte weiter, bis Tante Deli sich erhob und es auf den Arm nahm. Wenn ich mich richtig erinnere, brüllte Stefan den ganzen Nachmittag, und am Abend brüllte er weiter. Mein Bruder, schmal geworden und mit grauen Haaren an den Schläfen, steckte seinem und Isabellas Kind alle paar Minuten den Schnuller in den Mund. Das Kind spuckte den Schnuller unter den Tisch.
    Irgendwann befreite ich mich aus der Laokoon-Gruppe. Vor mir stand ein älterer Herr in gestärkter weißer Jacke. »Willkommen daheim«, sagte Robinson Krause und machte eine knappe Verbeugung.
    Die Menschentraube bewegte sich zum Haus hin, die Verandastufen hinauf und ins Gastzimmer. Horst, Helga und Annelihingen an mir. Joachim trug sein Kind. »Es ist Stefan«, sagte Joachim und zeigte auf den Brüllaffen, als ob ein Irrtum möglich sei, wen er meinte. Robinson Krause trug meinen Rucksack, in der linken Hand, er hielt ihn von sich ab, als sei Unrat darin.
    Die nächsten Stunden vergingen rasch, untermalt von Stefans Gebrüll. Sie ließen mir kaum Zeit zum Händewaschen, wollten, daß ich berichtete. Ich wollte, daß sie erzählten. Robinson servierte Getränke. »Wie schmeckt denn das«, sagte ich, als ich den ersten Schluck genommen hatte. »Wir nennen das Alkoholat«, sagte Robinson. »Laß das, Krause«, sagte mein Vater. »Wir haben doch noch von dem guten

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