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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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Sprache. Und dann, noch entfernt, fremdartiger Gesang, aufsteigend in diese sommerliche Luft, fremdartig Melodie und Worte:
    »Sojus nerushimyj respublik swobodnych
    Splotila na weki welikaja Rusj …«
    Wir liefen ins Haus, die Fenster der Stube gingen auf die Straße hinaus. In einem Sessel saß Astrids Mutter, ein Buch auf dem Schoß. »Geht nicht ans Fenster«, sagte sie. Doch wir mißachteten ihre Warnung, stellten uns hinter die Gardine. Nicht lange, und die Kolonne zog vorbei, auf der sandigen Dorfstraße. Bauernwagen, mit Panjepferden bespannt, deren Hufe Staub aufwirbelten, dazwischen Kolonnen, Männer in bräunlichen Uniformen. Die meisten hatten ihr Käppi abgenommen. Die Sonne schien auf die geschorenen Köpfe der Soldaten. Ihre Maschinenpistolen, Kalashnikows, wie Astrid bemerkte, trugen sie vor der Brust. »Splotila na weki welikaja Rusj … «
    Das Lied breitete sich aus mit dem Staub. Auf einem Panjewagen saß ein Soldat mit einem Bandonium und begleitete den Gesang seiner Kameraden.
    Einzelne Soldaten liefen an der Kolonne entlang. Auf einem Schimmel ritt ein Offizier. Am Schluß der Kolonne führte ein Soldat zwei Hunde an der Leine. Jagdhunde. Deutsche Bracken.
    Das Lied verebbte. Die Kolonne zog weiter auf der Landstraße. Der Staub legte sich. Niemand aus der Nachbarschaft zeigte sich, es war, als sei das Dorf ausgestorben. »Die Sieger«, seufzte Astrids Mutter. Ihr Haar war fast weiß, obwohl sie nicht alt war, in ihrem Gesicht hatten sich kaum Falten eingegraben. Sie hatte das Haar blau getönt.
    Am nächsten Tag verabschiedete ich mich von den Frauen und nahm meinen Marsch nach Berlin wieder auf. Astrid gab mir einen Zettel, auf den sie den Text jenes Liedes notiert hatte, das die Russen sangen. Sie und ihre Mutter sprachen russisch. Jeder aus dem Baltikum sprach russisch.
    »Schreib mal«, sagte Astrid.
    Ich versprach es.
    Sie stand mit ihrer Mutter auf der obersten der drei Stufen, die zur Haustür führten. Lange winkten sie mir nach, mit Taschentüchern, die weiß in der Sonne blitzten, als würden Tauben auf- und niederflattern.
    Immer noch trug ich meine Schmalspuraspiranten-Uniform. Als der Fliegerhorst am Meer, hinter Husum der dänischenGrenze zu gelegen, sich mangels Treibstoffs, mangels Piloten und mangels eines Staffelkommandanten – er war abgeschossen worden – auflöste, zog ich meine Luftwaffenuniform aus und die alte Hülse wieder an. Vorübergehend kam ich bei einem Bauern unter. Die Frauen trennten die Taschen von der Jacke ab und färbten die Uniform schwarz. Das dicke Tuch nahm die Farbe nicht an, der Anzug – denn jetzt war es einer – schillerte dunkelbraun-grünlich, eine nie zuvor gesehene Farbmischung.
    Von Dänemark her zogen Soldaten die Landstraße südwärts. Sie schoben Karren vor sich her, auf die sie ihre Habe gepackt hatten. Von Rock und Mütze hatten sie die Hoheitszeichen abgetrennt, dunkle Stellen auf dem Stoff zeigten, wo die Reichsadler mit dem Hakenkreuz gesessen hatten.
    Zwischen ihnen zog ich in Richtung meiner Heimatstadt, an Grenzen und Sperren aufgehalten, einen Fuß vor den anderen setzend, wenn es wieder weiterging.
    Nun war ich fast angelangt. In welchem Zustand würde ich Familie und Freunde, würde ich das Schützenhaus wiederfinden? Würde ich überhaupt etwas finden? Ich war ohne Nachricht geblieben in all den Wochen und Monaten, die seit meinem Aufbruch vergangen waren.
    »You are entering the American Sector.« Vor ein paar Wochen hatten amerikanische Besatzer die Sieger, die Soldaten der Ersten Bjelorussichen Front, abgelöst. Jeeps flitzten an mir vorbei. Vor einigen Häusern, denen man die Spuren von Artillerie-und Infanteriewaffenbeschuß ansah, standen Doppelposten. Weißes Koppelzeug, blanke Helme. Ihre Maschinenpistolen ähnelten den Kalashnikows jener Russen, die ich in das mekklenburgische Dorf hatte einmarschieren sehen.
    Ein Gewitterregen war niedergegangen, die schwarzblaue Wolke stand noch am Horizont, auf Potsdam zu. Ein Regenbogen wölbte sich über dem nahen Wald. Auf dem Asphalt der Chaussee, die zum Schützenhaus führte, verdampfte die Nässe. Falls sie leben, will ich sie überraschen, dachte ich. Dieser Satz in seiner Dummheit und Schrecklichkeit füllte mein Gehirn aus, verdrängte alles andere: Falls sie leben, will ich sie überraschen.
    Ich schlug einen Bogen. Die alten Linden und Kastanien wölbten ihre Wipfel, es war nicht zu merken, daß einige von ihnen Brandbomben und Holzaktionen zum Opfer gefallen waren.

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