Das schwarze Manifest
als auf den Straßen Moskaus zu betteln und zu sterben.
In den ersten Frühlingsmonaten des Jahres 1999 gab der Westen es schließlich auf, weitere Hilfsgelder in dieses Faß ohne Boden zu schütten, und die ausländischen Investoren, sogar die Partner der russischen Mafia, zogen sich zurück. Wie eine im Krieg Flüchtende, die zu oft vergewaltigt worden ist, sank die russische Wirtschaft in den Straßengraben und starb an Verzweiflung.
Das waren die trübseligen Gedanken, die Präsident Tscherkassow durch den Kopf gingen, als er an diesem heißen Sommertag zu seinem Landsitz hinausfuhr.
Sein Fahrer kannte die Strecke zur Datscha des Präsidenten draußen jenseits von Usowo an der Moskwa, wo die Luft unter den Bäumen kühler war. Früher hatten die Bonzen des sowjetischen Politbüros ihre Datschen in den Wäldern an dieser Biegung des Flusses gehabt. In Rußland hatte sich viel geändert, aber doch nicht so viel.
Der Verkehr war nur spärlich, weil Benzin teuer war, und die von ihnen überholten Lastwagen bliesen riesige schwarze Qualmwolken aus ihren Auspuffen. Hinter Archangelskoje fuhren sie über die Brücke und bogen auf die Straße am Fluß ab, der im Sommerdunst still der Großstadt hinter ihnen entgegenströmte.
Fünf Minuten später hatte Präsident Tscherkassow das Gefühl, nicht mehr genug Luft zu bekommen. Obwohl die Klimaanlage voll arbeitete, drückte er auf die Taste, um das hintere Seitenfenster neben seinem Kopf herunterzulassen und sich Luft von draußen ins Gesicht wehen zu lassen. Sie war heißer, aber nun konnte er etwas besser atmen. Wegen der Trennscheibe bemerkten weder sein Fahrer noch der Leibwächter, daß er das Fenster geöffnet hatte. Rechts zweigte die Straße nach Peredelkino ab. Als sie an der Abzweigung vorbeifuhren, lehnte der russische Präsident sich nach links und fiel seitlich über den Rücksitz.
Als erstes fiel dem Fahrer auf, daß der Kopf des Präsidenten aus seinem Rückspiegel verschwunden war. Eine gemurmelte Bemerkung machte den Leibwächter darauf aufmerksam, der sich den Kopf verrenkte, um nach hinten zu sehen. Im nächsten Augenblick hielt der Mercedes schlingernd am Straßenrand.
Hinter ihm kam auch der Tschaika zum Stehen. Der Chef des Begleitkommandos, ein ehemaliger Speznas-Oberst, sprang vom Beifahrersitz und rannte nach vorn. Seine Männer sprangen mit schußbereiten Waffen aus dem Wagen und bildeten einen schützenden Kreis. Sie wußten nicht, was passiert war.
Der Oberst erreichte den Mercedes. Tscherkassows persönlicher Leibwächter hatte die hintere Tür geöffnet und beugte sich in den Wagen. Der Oberst riß ihn zurück, um besser sehen zu können. Der Präsident lag halb auf der Seite, halb auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und atmete geräuschvoll, fast hechelnd.
Das nächste Krankenhaus mit einer erstklassigen Intensivstation war die Staatsklinik Nummer eins in den viele Kilometer entfernten Sperlingsbergen. Der Oberst setzte sich neben Tscherkassow, der offenbar einen Herzanfall erlitten hatte, und befahl dem Fahrer, hier zu wenden und zur Ringautobahn zurückzufahren. Der leichenblasse Fahrer gehorchte. Über sein Mobiltelefon alarmierte der Oberst die Klinik und forderte einen Krankenwagen an, der ihnen die halbe Strecke entgegenkommen sollte.
Dieses Treffen fand eine halbe Stunde später auf dem Mittelstreifen der Autobahn statt. Sanitäter schafften den Bewußtlosen aus seiner Limousine in den Krankenwagen und bemühten sich um ihn, während der aus drei Fahrzeugen bestehende Konvoi in die Klinik zurückraste.
Dort wurde der Präsident von dem diensthabenden Chefkardiologen betreut und eiligst auf die Intensivstation verlegt. Die Herzspezialisten setzten alles ein, was sie hatten, die neuesten und besten Geräte, aber ihre Bemühungen kamen trotzdem zu spät. Die Linie auf dem Monitor wollte sich nicht bewegen, sondern blieb ein langer Leuchtstrich, zu dem ein hoher Summton gehörte. Um 16.10 Uhr richtete der Chefkardiologe sich auf und schüttelte den Kopf. Der Mann mit dem Defibrillator trat zurück.
Der Oberst tippte eine Kurzwahlnummer in sein Mobiltelefon ein. Nach dem dritten Klingeln meldete sich jemand. Der Oberst sagte: »Geben Sie mir das Büro des Ministerpräsidenten.«
Sechs Stunden später ging die
Foxy Lady
draußen auf der Meeresdünung weit vor Westindien auf Heimatkurs. Unten auf dem Achterdeck holte der Bootsmann Julius die Leinen ein, nahm die Drahtverstärkungen ab und verstaute die Angelruten. Ihre
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