Das Schweigen des Lemming
Kunst … Aber jetztschau nur, dass du den Zug erwischst. Und toi, toi, toi, für dein Konzert …»
«Danke, Wallisch, danke. Das vergess ich dir nicht …» Pokorny hat kurz gezögert, als habe er noch etwas auf dem Herzen, hat dann aber auf dem Absatz kehrtgemacht und ist eilig die Stiegen hinuntergewackelt.
Während der Lemming aus dieser kurzen Reminiszenz in die Gegenwart zurückkehrt, scheint sich Stropek rasant dem Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu nähern. «Verstehe», meint er mit fester, wenn auch gedämpfter, wohl gegen seine Frau hin abgeschirmter Stimme. «Das ist löblich, Wallisch, sehr löblich von Ihnen. Also, wo brennt’s denn jetzt?»
In kurzen Worten schildert der Lemming das Geschehene. Seine nächtliche Runde, die demolierte Tür des Polariums, schließlich den Fund des aufgeknüpften Pinguins.
«Sauerei!», wird er von Stropek unterbrochen. «Eine echte Sauerei … Haben S’ schon die Polizei angerufen?»
«Nein, Herr Doktor. Ich wollte zuerst … Sie wissen schon, der Dienstweg …»
«Gut, Wallisch, sehr brav. Also passen S’ auf, ich sag Ihnen ganz genau, was wir jetzt machen: Sie drehen ruhig Ihre Runde zu Ende, und ich kümmer mich um den Rest …»
«Aber … Wer soll dann das Tor aufsperren? Die Polizei kann doch sonst nicht …»
Der Lemming verstummt. Ihm ist, als hätte er durch den Hörer ein Seufzen vernommen, und zwar eines von jener Art, wie er sie auf den Tod nicht ausstehen kann, eines, das zumeist mit einem ungeduldigen Verdrehen der Augäpfel zusammenfällt. Eine respektlose Geste, verächtlich und beleidigend: Man entblößt das Weiße seiner Augen und stößt Luft aus, was in gewisser Weise schlimmer ist, als dem anderen mit einem kräftigen Furz seinen nackten Hintern entgegenzustrecken.
«Hören Sie, Wallisch. Wir brauchen sie nicht, die Polizei …»
«Aber man muss doch …»
«Jetzt überlegen S’ doch einmal. Was passiert, wenn wir die Sache an die große Glocke hängen? Glauben S’ im Ernst, man wird die Rotzbuben, die das gemacht haben, verfolgen? Geschweige denn erwischen? Eine lächerliche Anzeige, Wallisch, das ist alles, was dabei herausschaut. Ein ärarisches Papierl, das zu den unerledigten Akten gelegt wird. Ein bisserl Besitzstörung und ein bisserl Sachbeschädigung, mehr ist das net in unserer Legislatur. Verstehen S’, Wallisch? Oder glauben S’, man wird uns wegen einem toten Vogel die Mordkommission schicken?»
Der Lemming schweigt. Er schweigt aus einem inneren Widerstreit heraus: Sein Herz will eine andere Sprache sprechen als sein Kopf.
«Der Schaden, Wallisch, wär tausendmal größer als der Nutzen. Solche Eskapaden landen nicht vor dem Richter, sondern immer nur in den Medien. Sie können sich vielleicht vorstellen, was die
Reine Wahrheit
schreiben tät, jetzt in der Sauren-Gurken-Zeit …»
Ja, allerdings, der Lemming kann es sich vorstellen. Die Schlagzeile würde wahrscheinlich so ähnlich lauten wie:
Wer tut so etwas!
Und der erklärende Untertitel:
Unfassbare Bluttat in unserem Schönbrunner Tierparadies – Wehrloser Pinguin grausam zu Tode gequält
…
«Am End», fährt Stropek nun fort, «am End bleibt das alles noch an uns hängen. Versagen des Wachpersonals und so weiter. Wie unlängst bei der Dings, im Kunsthistorischen, Sie wissen schon.»
Ja, der Lemming weiß, was Stropek meint. Drei Monate ist es jetzt her, dass der größte Kunstraub der zweiten Republik ganz Österreich erschüttert hat. Über ein simples Baugerüst sind die Täter in das Museum eingedrungen und haben sie mitgenommen, die Dings: die so genannte Saliera nämlich, ein gerade mal dreißig Zentimeter langes, goldüberzogenes Salzgefäß,das im unvergitterten ersten Stock des Gebäudes – gleichsam auf dem Silbertablett – zur Abholung bereitstand. Und was für ein Salzgefäß! Als einzig erhaltene Goldschmiedearbeit des Florentiner Bildhauers Benvenuto Cellini zählt die Saliera zu den bedeutendsten Kunstwerken der Renaissance, was sich nicht zuletzt in ihrem kolportierten Schätzwert niederschlägt: Fünfzig Millionen soll sie wert sein, die kleine Skulptur, Euro wohlgemerkt, nicht Schilling. Stropek hat Recht: Schon am Tag nach dem Diebstahl sind im Kunsthistorischen Museum die so genannten Konsequenzen gezogen worden. Nein, es war nicht der Direktor, den man davongejagt hat, es war die Wachmannschaft, die entlassen wurde …
«Und was das Schlimmste ist, Wallisch, das Allerschlimmste: Es
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