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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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finden sich immer ein paar Idioten, die so einen Schurkenstreich auch noch lustig und originell finden. Die auf solche Ideen nur gewartet haben. Nachahmungstäter, sag ich nur, Nachahmungstäter. Nicht lang, und wir haben den Tiergarten voller erdrosselter Emus, gevierteilter Waschbären und geköpfter Koalas   … Aber was erzähl ich Ihnen, Sie waren ja schließlich selbst einmal in dem Metier   … Hallo?   … Wallisch?   … Sind Sie noch dran?»
    Die Mauer des Schweigens, das Bollwerk der Stummheit – der Lemming’sche Schmollwinkel quasi – zerbröckelt: Auch wenn er Stropek das despektierliche Seufzen von vorhin noch immer ein wenig verübelt, die Argumente des Chefs sind einfach nicht zu widerlegen. Das Private mit dem Beruflichen zu vermischen mag ja gelegentlich eine der Schwächen des Lemming sein, aber in diesem Fall steht die persönliche Kränkung der professionellen Einsicht nicht im Wege.
    «Ja   … Ja, ich bin noch da.»
    «Und? Haben S’ alles verstanden, oder sind Sie anderer Meinung?»
    «Ja, Herr Doktor, also, nein   … Es stimmt schon, was Sie sagen. Aber falls ich den Kerl erwisch, dann   …»
    «Ganz recht, Wallisch, dann übergeben S’ ihn der Polizei. Nur keine weiteren Leichen heut Nacht, wenn ich bitten darf   …»
     
    Noch herrscht Ruhe am Himmel über Schönbrunn. Es ist aber die Ruhe vor dem Sturm: Hinten im Osten, zwischen der Orangerie und dem Taubenhaus, ziehen die ersten, rötlichen Schlieren der Morgendämmerung auf. Nicht mehr lange, und der Zoo wird sich wieder mit Menschen füllen, keine grölenden Schulklassen diesmal, sondern kulturbewusste Wiener Familien, deren sommerliche Sonntagsphantasien sich nicht allein auf das Krapfenwaldbad, die Donauinsel und das Gänsehäufel beschränken. «Gemma Affen schauen!», heißt es bei ihnen schon am Samstagabend, sofern der Wetterbericht diese Freiluftvergnügung auch zuzulassen verspricht. Und für heute ist ein wahres Kaiserwetter angesagt.
    Der Lemming hat seinen Rundgang beendet. Er steht am großen Einfahrtstor des Wirtschaftshofs und wartet auf die Ablöse. Der Pinguin, den er inzwischen notdürftig mit Plastikfolie bedeckt hat, um seinen zwölf gefiederten Gefährten den Anblick des Todes zu ersparen, der Pinguin also wartet auch. Er wartet auf die Herren von der Wiener Tierkadaververwertung, die seinen kleinen Körper in großen Maschinen zu Schmierfett verarbeiten werden. Und er harrt seiner letzten Ruhestätte: Schon wenige Monate später wird er im frisch geölten Getriebe eines rostigen Lastkahns über die Wellen schaukeln. Die blaue Donau hinab bis an das Schwarze Meer.

3
    Kaiserwetter also: In der Provinz begrüßen die Hähne den neuen Morgen, in der Stadt beginnt der Tag bereits zu brüten. Gnadenlos blau, gnadenlos windstill stülpt er sich über das Häusermeer, als wollte er alle Ozonrekorde brechen.Gesundheitsbewusste Automobilisten fahren heute mit hochgekurbelten Seitenscheiben: Man muss sich ja irgendwie schützen vor dem verderblichen Atemgift.
    Kaiserwetter auch in Ottakring, dem sechzehnten Wiener Gemeindebezirk, der sich – zumindest was seine nordwestlichen Zonen betrifft – nicht ganz zu entscheiden vermag, ob er wohl noch zur Stadt oder schon zur Provinz gehört. Grün ist hier nicht nur der Veltliner, der in den überaus zahlreichen Heurigen ausgeschenkt wird, grün sind auch die Pflanzen in Gärten und Hinterhöfen, die – zumeist gestutzt und kultiviert – auf den benachbarten Wienerwald schielen. Als wären sie verzärtelte Haushunde, die den vazierenden Straßenkötern ihre Freiheit neiden.
    Der Hund, der dem Lemming entgegenstürmt, als er das Gartentor öffnet, ist zwar domestiziert, aber vollkommen ungestutzt. Mit wehenden Zotteln und hechelnder Zunge fliegt er über die Wiese, ein wahrer Koloss, den mächtigen Schädel wie einen Rammbock weit nach vorn gestreckt, während hinten der buschige Schwanz hin- und herschlingert wie ein außer Kontrolle geratener Feuerwehrschlauch.
    «Castro! Na komm, Castro!» Der Lemming geht in Kampfposition, stemmt seine Beine in den weichen, hohen Rasen, erwartet die unvermeidliche Karambolage. Sekunden später schon liegt er im Gras, den japsenden, schnaubenden, schlabbernden Riesen über sich. Und dessen samtige Zunge auf seinem Gesicht. Es ist bereits ein alter Brauch, ein hundertmal geübtes Ritual, wobei der Lemming die Rolle des Opfers übernimmt, während Castro, der Leonberger, als Folterknecht die Fäden zieht. Auch die Speichelfäden,

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