Das Schweigen meiner Mutter
Kehle, sie darf nicht austrocknen, auch für die Tränen braucht man Flüssigkeit.« Das war ihre Art, darauf hinzuweisen, dass jemand Tee für Dorit kochen sollte.
Bracha war beleidigt aufgestanden und lief wieder im Garten umher. Chajale und ich beobachteten sie. Auch Golda ließ ihre Tochter nicht aus den Augen. »Letztlich ist meine Brachale ein gutes Mädchen. Aber wie lange soll das noch so weitergehen? Seit Jahren bitte ich sie, damit aufzuhören, ich habe ihr gesagt, es gibt noch andere Dinge auf der Welt, aber was soll ich machen, sie hat schon immer Geschichten über die Shoah hören wollen. Sie liebt die Shoah so sehr.«
Wieder kam Aksam in den Garten. Diesmal brachte er für Dorit Tee mit Nana und Eisenkraut.
»
Oj wej is mir
, sie ist doch keine Kuh!«, wetterte Golda. Doch als sie sah, dass Dorit den Tee trank, gab sie nach. »Also schön, soll es so sein. Hauptsache, sie hat Kraft für die Beerdigung.«
Plötzlich schaute Kela aus dem Fenster und rief: »Mama, Itzik ist am Telefon!«
Dorit lief zum Apparat auf der Küchenterrasse.
»Er hat sich erschossen«, hörte ich sie sagen. »In den Kopf. Er hat geklagt, dass ihn die Erinnerungen in den Wahnsinn treiben, dass sie ihn völlig beherrschen, dass er nicht mehr kann. Du weißt doch, dass er immer gesagt hat, die Therapie bringt ihn um, dass er wegen all dieser Gespräche kein Vergessen finden kann, und was würde all das Reden schon ändern. Aber bitte, lass mich jetzt.«
Ich lauschte auf jedes Wort.
»Genug, ich kann nicht mehr sprechen … Stimmt, ich habe es wirklich noch nicht verdaut, ich werde auch nicht anfangen,darin herumzustochern, du kennst mich doch. Aber jetzt zu dir, wenn du kommen willst, komm, wenn du nicht kommen willst, dann komm nicht. Die Beerdigung wird jedenfalls erst nach dem Unabhängigkeitstag stattfinden.«
Dann schwieg sie, nur Itzik redete und redete.
Als das Telefonat zu Ende war, wirkte Dorit leer und erschöpft. Sie entschuldigte sich bei uns und sagte, sie wolle sich schlafen legen.
»Zumindest euch gegenüber kann ich ehrlich sein«, sagte sie mit weicher Stimme. »Diese Feierlichkeiten fallen mir sehr schwer.«
»Ja, ruh dich aus«, ermunterte Golda sie. »Und nimm was zum Beruhigen.« Sie zählte die Namen aller Beruhigungsmittel von damals bis heute auf, von Valium bis Rescue.
»Das Schwerste liegt noch vor ihr«, sagte Golda, für die der Besuch offenbar beendet war. Sie stand auf und ging in die Küche, um die Töpfe einzupacken, die sie mitgebracht hatte.
Bracha nutzte die Gelegenheit und holte rasch ein paar Visitenkarten aus ihrem Rucksack: »Bracha Poschibuzki – Shoah-Beraterin. Sachverständige für die Suche nach Verwandten und Dokumenten«.
»Ich habe mit der Arbeit im Archiv aufgehört«, flüsterte sie mir zu. »Es wird langsam Zeit, dass ich mich selbstständig mache.«
Dorit ging ins Haus. Ich sah, dass Aksam ihr mit den Augen folgte.
»Am Schluss werden sie ein Paar sein«, sagte Chajale, die nun auch anfing, ihre Sachen zusammenzusuchen, weil sie sich auf den Weg machen wollte. »Genetisch«, flüsterte sie mir zu, »alles ist genetisch. Kennst du die Geschichte? Brachahat mir erzählt, dass Itta sich während des Kriegs in einen deutschen Offizier verliebt hat, sie ist mit ihm aus dem Lager geflohen. Die schwer typhuskranke Fejge blieb dort allein zurück. Zu ihrem Glück hat sich Herr Friman in sie verliebt und sich um sie gekümmert, so hat Fejge überlebt.«
Das war also das Ende der Geschichte, die an den Schabbatabenden immer nur angedeutet worden war. Jetzt war mir alles klar.
»Bracha hat mir auch erzählt, dass Itta nach dem Krieg in Deutschland geblieben ist, bis ihr Nazi bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Erst danach ist sie nach Israel gekommen.«
Jemand berührte leicht meine Schulter. Dorit war noch einmal zurückgekommen. Sie sagte, es falle ihr schwer, sich von uns zu trennen, sie wolle sich bei allen für die Unterstützung bedanken.
»Und was Aksam betrifft«, fuhr sie fort, denn sie hatte offenbar unser Gespräch gehört, »er wird Ende der Woche weggehen und die Gästezimmer werden geschlossen.« Ihre Stimme klang entschlossen und ruhig.
»So vermasselst du dir also dein eigenes Leben«, fuhr Chajale sie wütend und besorgt an. »Was willst du dann tun? Wovon willst du leben?«
»Wie Golda gesagt hat, ich habe einen Beruf«, antwortete Dorit kühl.
»In Ordnung«, sagte Chajale, »von mir aus kannst du die Gästezimmer
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