Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
im Stillen, ob Shotas Wissen über diese Bestie tatsächlich so umfassend war, wie sie behauptete. »Ihr Tun muss doch einer bestimmten Charakteristik unterliegen. Ihr Verhalten muss bestimmten Normen folgen, die wir nach und nach verstehen lernen und schließlich vorhersehen können. Die gilt es eben herauszufinden. Ein absolut wesenloses Wesen ist einfach nicht vorstellbar.«
»Begreifst du nicht, Richard? Du versuchst gleich von Anfang an, diese Bestie zu verstehen. Meinst du nicht, Jagang weiß, dass du genau das versuchen würdest, um sie letztendlich besiegen zu können? Hast du dich ihm gegenüber nicht schon früher so verhalten? Er hat dein Wesen durchschaut und hat, um dich zu bekämpfen, eine Waffe geschaffen, die aus ebendiesem Grund kein Wesen besitzt.
Du bist der Sucher, mit anderen Worten, du suchst Antworten auf die Frage nach dem Wesen von Menschen, Dingen und Situationen – so wie dies mal mehr, mal weniger alle Menschen tun. Besäße die Blutbestie ein bestimmtes Wesen, könnte man ihre Handlungsweise erkennen und schließlich verstehen, und ist dies erst in ausreichendem Umfang geschehen, könnte man Vorsichtsmaßnahmen treffen und Pläne zu ihrer Bekämpfung ersinnen. Die Entschlüsselung seines Wesens ist die unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Gegenwehr. Aus genau diesem Grund besitzt diese Bestie kein Wesen – damit dir all diese Mittel verwehrt sind.«
Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und sagte noch einmal: »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Soll es auch nicht. Auch das ist Teil ihrer Charakteristik – dass sie eben keine hat. Diese bewusste Unsinnigkeit hat den alleinigen Zweck, jegliche Gegenwehr deinerseits zu vereiteln.«
»Ich bin derselben Meinung wie Lord Rahl«, warf Cara ein. »Sie muss trotzdem über irgendein Wesen verfügen, eine bestimmte Art, zu handeln und zu reagieren. Selbst Menschen, die sich wegen ihrer Unberechenbarkeit für besonders schlau halten, gewöhnen sich, ohne es selbst zu merken, ein bestimmtes Verhaltensmuster an. Diese Bestie kann nicht einfach mal hierhin und mal dorthin laufen und darauf hoffen, Lord Rahl im Schlaf zu überraschen.«
»Um zu verhindern, dass sie verstanden und somit unschädlich gemacht werden kann, ist diese Bestie ganz bewusst als ein Geschöpf des Chaos erschaffen worden. Sie wurde geschaffen, um dich anzugreifen und zu töten, aber ihr Auftrag geht darüber hinaus, denn für das Erreichen dieses Ziels bedient sie sich Mitteln, die sich jeder Gesetzmäßigkeit verweigern.« Wieder raffte Shota einen flatternden Zipfel ihres Kleides auf, dann fuhr sie fort. »Wenn sie heute mit Krallen angreift, spuckt sie morgen Gift. Am nächsten Tag könnte sie sengende Flammen verwenden, oder aber sie streckt ihr Opfer mit einem Hieb nieder oder schlägt ihre Reißer in dich. Ihre Attacken unterliegen allein dem Zufall, denn sie entscheidet sich nicht aufgrund von Untersuchungen, früheren Erfahrungen oder der gegebenen Situation für eine bestimmte Vorgehensweise.«
Richard fasste seinen Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger und dachte über ihre Erklärung nach. Bisher deutete alles darauf hin, dass Shota Recht hatte, zumindest insoweit, als sämtliche Attacken kein erkennbares Muster hatten erkennen lassen, sondern auf höchst unterschiedliche Weise erfolgt waren – so unterschiedlich, dass sie sich schon gefragt hatten, ob es überhaupt dieselbe Bestie war, die es, Niccis warnenden Worten zufolge, auf ihn abgesehen hatte.
»Aber Lord Rahl ist dieser Bestie doch schon mehrfach entkommen. Damit wäre doch bewiesen, dass man sie täuschen kann.«
Schon bei dem Gedanken, dem eine kindlich naive Vorstellung zugrunde lag, musste Shota schmunzeln. Schlendernd entfernte sie sich einige Schritte, ehe sie zurückkehrte, in Gedanken ganz in das Problem vertieft. Die leicht gekräuselte Stirn verriet Richard, dass ihr eine stichhaltigere Erklärung eingefallen war.
»Betrachte diese Blutbestie einmal so, als wäre sie Regen«, begann sie. »Und dann stell dir vor, du würdest gerne vom Regen verschont bleiben – so wie du verhindern möchtest, von der Blutbestie erwischt zu werden. Es ist also dein Ziel, trocken zu bleiben. Heute hast du vielleicht ein Dach über dem Kopf, wenn der Regen kommt, also wird der Regen dich verschonen. An einem anderen Tag zieht der Regen auf der anderen Seite des Tales auf, sodass du wiederum nicht nass wirst. An wieder einem anderen Tag wirst du dich vielleicht entscheiden, eine
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