Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
eingeschärft, erreichen musste. Allerdings beunruhigte sie, dass so viele Soldaten mit Armbrüsten ausgerüstet waren und schwarze Handschuhe trugen und ihre gespannten Waffen mit tödlich aussehenden rot befiederten Bolzen bestückt waren.
Schwester Ulicia hatte ihr erklärt, dieselbe Magie, welche die Schmerzen hervorrief, um sie an der Flucht zu hindern, umgebe sie mit magischen Netzen, die verhinderten, dass sie bemerkt wurde. Kahlan hatte zu ergründen versucht, warum die Schwestern so etwas tun sollten, doch ihre Gedanken sträubten sich gegen jeden logischen Zusammenhang, wollten sich einfach nicht zu einer Erkenntnis verknüpfen lassen. Das war das Allerschlimmste, dieses völlige Unvermögen, einen bestimmten Gedanken zu verfolgen, sobald sie den Wunsch danach verspürte. Für gewöhnlich begann sie mit einer Frage, aber sobald sich die Antwort abzuzeichnen begann, lief das Ganze ins Leere, so als käme danach nichts mehr.
Auch wenn sie ein magischer Schleier umhüllte, sie wusste nur zu gut, dass sie auf der Stelle tot wäre, wenn einer der Soldaten seine Armbrust auf sie richtete und auf den Abzug drückte, ehe er sie wieder vergaß.
Sie hätte nicht einmal etwas dagegen gehabt, tot zu sein, denn dann wäre sie wenigstens von dem quälenden Albtraum befreit, zu dem ihr Leben geworden war. Aber Schwester Ulicia hatte sie gewarnt, dass die Schwestern großen Einfluss beim Hüter des Totenreichs besäßen, und in diesem Zusammenhang einfließen lassen, sie seien Schwestern der Finsternis – wie um ihr die Glaubwürdigkeit ihrer Warnung nachdrücklich vor Augen zu führen.
Eine Beteuerung, deren Kahlan wirklich nicht bedurfte. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass jede der vier Schwestern imstande wäre, sie bis in den hintersten Winkel zu verfolgen und dort wieder hervorzuholen, selbst wenn dieser Winkel eine Grabstelle war, wie jene, die sie in einer finsteren Nacht geöffnet hatten – aus Gründen, die Kahlan sich nicht vorzustellen vermochte und die sie auch gar nicht wissen wollte.
Ein Blick in die schauderhaften Augen der Schwester hatte ihr die Gewissheit gegeben, dass sie die Wahrheit sprach. Danach war der Tod für sie keine verlockende Erlösung mehr gewesen, sondern ein Versprechen von grauenhaftem Schrecken.
Kahlan wusste nicht, ob ihr Leben schon immer das einer Leibeigenen gewesen war, über die andere nach Belieben verfügen konnten. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich an kein anderes erinnern.
Immer wieder schlüpfte sie unbemerkt an Patrouillen vorbei, passierte sie mehrere Kreuzungen, die ihr Schwester Ulicia auf dem Weg hierher in verschiedenen Nachtlagern in den Sand gezeichnet hatte, und nicht ein einziges Mal versuchte jemand sie auf ihrem Weg durch die Flure, die sie sich eingeprägt hatte, aufzuhalten. Es hatte beinahe etwas Erniedrigendes, dass kein einziger Mann ihr Beachtung schenkte.
Es war überall das Gleiche: Niemand bemerkte sie, und wenn doch, zeigte ihr der Betreffende sofort seine Gleichgültigkeit und widmete sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten. Sie war eine Sklavin ohne eigenes Leben, sie gehörte anderen. Es gab ihr das Gefühl, unsichtbar zu sein, bedeutungslos, unwichtig – ein Niemand.
Ab und zu versuchte sie sich vorzustellen, wie es wohl wäre, jemanden zu haben, der einen mochte und schätzte … und diese Gefühle zu erwidern.
Kahlan wischte sich eine Träne von der Wange, sie wusste, so weit würde es nie kommen. Sklaven besaßen kein eigenes Leben, sie waren dazu da, dem Willen ihrer Herrn und Meister zu gehorchen – das hatte Schwester Ulicia ihr unmissverständlich klar gemacht. Eines Tages hatte sie diesen boshaften Blick in den Augen bekommen, der sie manchmal überkam, und gesagt, sie spiele mit dem Gedanken, Kahlan sich fortpflanzen zu lassen, damit sie ihnen einen Nachkommen gebären könne.
Aber wie war es nur dazu gekommen? Woher stammte sie? Die Vergangenheit anderer Menschen verschwand gewiss nicht einfach so aus ihrer Erinnerung, wie dies bei ihr der Fall war.
Sie schaffte es einfach nicht, ihren von nebulösen Vorstellungen eingelullten Verstand zu zwingen, dem Problem auf den Grund zu gehen. Gewiss, sie konnte die Fragen formulieren, aber die Antworten schienen sofort von einem trüben Dunst aus Nichtigkeit aufgesogen zu werden. Diese absolute Unfähigkeit zu denken war ihr zutiefst verhasst. Wieso konnten andere denken, sie dagegen nicht? Selbst diese Frage schwand in dem Sumpf aus ineinander verschlungenen
Weitere Kostenlose Bücher