Das Schwert des Sehers
neigte den Kopf. »Ich habe unten in meinen Labors ein kleines Schauspiel für Euch vorbereitet. Wenn ich Euch einladen darf …?«
»Nein … Nein«, stammelte Aredrel. »Nicht jetzt.«
Er floh den Flur hinunter und in sein Schlafgemach. Er schlug die Tür zu und blieb dahinter stehen. Endlich allein. Durch die Glasfenster und die Vorhänge aus ockergelber Seide sickerte das Licht eines klaren Morgens in den Raum. Es wirkte so freundlich. Runnik folgte ihm nicht, und Aredrel atmete auf.
Ich muss diesen Hofmagier loswerden, dachte er.
Ihm wurde bewusst, dass er über jeden seiner Gefolgsleute dasselbe sagen könnte. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte.
Aredrel wischte sich die Stirn und stöhnte.
Der Mann, der er noch gestern gewesen war, hatte keine Angst vor Runnik gehabt. Aredrel war Herr über all die Wölfe gewesen, die er an seinem Hof versammelt hatte. Hatte er da nicht mehr von einem Kaiser an sich gehabt als jetzt?
Unruhig ging er in seinem Schlafzimmer auf und ab, zwischen den uralten Möbeln, von denen er allein das breite Bett mit dem hohen Himmel jemals benutzt hatte. Er öffnete die Schubladen seines leeren Sekretärs, als könnte er darin eine Antwort auf seine Fragen finden.
Nein, ich bin nicht schwach geworden!
Er würde sein Reich neu ordnen.
Aber wem konnte er vertrauen, an diesem Hof, den er in den letzten Jahren mit allem Gesindel besetzt hatte, das es in seinem Reich gab?
Seiner Frau?
Aredrel schnaubte verächtlich. Sie war ein Püppchen, das ihm aus gutem Grund aus dem Weg ging. Er hatte von ihr nie als der »Kaiserin« gedacht, und er tat es auch jetzt nicht, was immer sich sonst verändert haben mochte.
Bertin von Ebran, sein Erzkaplan?
Dieser Priester mochte ein Anfang sein. Aber Aredrel musste zugeben, dass er den Mann kaum kannte. Hatte er je ein Wort mit ihm gewechselt?
Bei diesem Gedanken erinnerte er sich an jenen anderen Menschen, der fast vergessen in seiner Nähe gelebt hatte. Aruda!
Aredrel stöhnte leicht. Er strich sich die schütteren braunen Haare aus der Stirn. Das war sein schlimmstes Versäumnis! Wie ein Geist war sie stets an seinem Hof gewesen, und dann hatte er sie fortgeschickt.
Er würde dem Erzkaplan einen Brief diktieren und seine Tochter zurückholen. Was auch immer er in der Vergangenheit getan hatte, was auch immer die Zukunft brachte – er wünschte sich, dass seine Tochter während der kommenden Tage an seiner Seite stand.
Und dass sie ihm verzieh.
26.9.962 – UNDERVILZ, ZWEI TAGESREISEN NÖRDLICH DER HAUPTSTADT
U ndervilz war so unbedeutend und provinziell, wie der Name vermuten ließ. Eine Handvoll zweistöckiger Häuser aus Fachwerk, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie ein Dorf sein wollten oder ein Städtchen. Dennoch lag Undervilz im Einzugsgebiet der großen Metropole Horome und am Ufer des gewaltigen Stroms, den die Bewohner am Oberlauf schlicht den »Rhod« nannten.
Dauras liebte solche Orte. Es verirrten sich genug Fremde hierher, dass es für seinen Lebensunterhalt reichte, und zugleich blieb es so ruhig, dass niemand ihn mit Dingen behelligte, die unter seiner Würde waren. Das war eine ganze Weile gut gegangen – jetzt aber saß Dauras der Schwertkämpfer an einem Tisch in der »Silberforelle«, über einen Krug dünnen Biers gebeugt, und fragte sich, ob es an der Zeit war, weiterzuziehen.
Es gab einen guten Grund, warum er noch darüber nachdachte: Der Wirt der »Forelle« kannte ihn, und Dauras genoss hier uneingeschränkten Kredit. Zudem passte das Haus perfekt zu seinen Geschäften. Es war keine dieser verrauchten Kneipen, in denen man kaum aufstehen konnte, ohne sich den Kopf zu stoßen. Der Gastraum war groß, mit langen Tischen und Bänken und mit viel lichter Weite unter der Decke.
Dauras hatte lange nach einem Ort wie diesem gesucht, und er gab ihn nur ungern wieder auf.
Doch vielleicht musste er das gar nicht.
Zwei Männer traten in die Stube, und Dauras zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Er trug ein geschlitztes Wams aus grünem Tuch und eine leichte helle Hose, dazu Stiefel ausweichem Leder – reisefeste und zugleich bequeme Kleidung von guter Qualität. Aber der Kapuzenmantel, den er darüber anhatte, war schäbig und fleckig und verbarg alles. Es war ein Umhang, in dem er aussah wie ein Landstreicher oder wie ein bäuerlicher Tagelöhner.
Er musterte die beiden, ohne den Kopf zu heben. Der eine war ein großer ungeschlachter Typ mit viel zu schweren Muskeln, die immer zu
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