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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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    Der Typ saß auf der anderen Seite der Bar und starrte Raymond an, herausfordernd, los, komm schon, sag was: der junge Typ, der ihn beinahe abgestochen hätte, der mit dem Messer.
    Vor sechs Wochen war es gewesen, auch an einem Samstagabend. Allerdings war es deutlich kälter gewesen, Raymond konnte seinen Atem sehen, als er am »Royal« vorbei zum Platz hinuntergegangen war. Es gab keinen Grund, warum sie einem hätten auffallen sollen, nichts Besonderes war an ihnen, vier junge Männer in Hemdsärmeln, neunzehn oder zwanzig Jahre alt, die einen draufmachen wollten; weiße Hemden und neue Krawatten, am selben Morgen bei River Island oder Top Man gekauft, dunkle Hosen lose auf den Hüften, die geballten Fäuste tief in den Taschen. Sie waren laut. Quatschten die kichernden Mädchen an, die in kurzen Röcken oder Shorts auf hohen Absätzen vorbeistöckelten.
    »Hey, du!«
    »Was?«
    »Du da!«
    »Ja?«
    Raymond hatte einen von ihnen angerempelt, wenn man es überhaupt so nennen konnte; er hatte mit der Schulter leicht sein Hemd gestreift, als er sich seitlich am Schaufensterglas von Debenhams vorbeidrückte.
    »Hey, pass gefälligst auf, du Scheißer.«
    »Okay, ich wollte nicht …«
    Die vier rückten geschlossen näher, kein Raum für Erklärungen.
    »Ehrlich …« Eine beschwichtigende Geste. Raymond hob beide Hände: ein Fehler.
    Der Typ, der ihm am nächsten stand, schlug zu, eigentlich war es mehr ein Stoß als ein Schlag, aber kräftig genug, um ihn gegen das glatte, kalte Glas zu werfen; sein erschrockener Blick stachelte sie nur noch mehr an.
    »Scheißkerl.«
    Dann gingen sie alle zusammen auf ihn los; Schläge, die er kaum spürte, aber er ging in die Knie. Einer von ihnen holte aus und trat mit frisch poliertem Schuh zu, Raymond schrie auf, und das gefiel ihnen natürlich. Sie wollten alle etwas davon haben, ihn richtig verdreschen, während der Rest der Stadt einen großen Bogen um sie machte, noch ein paar Bier, noch ein paar Lacher, der Abend war ja erst halb um, und sie wollten alle ihren Spaß haben.
    Raymond bekam ein Bein zu fassen und hielt es fest. Ein Absatz bohrte sich in seine Wade, er schlug die Zähne in den Oberschenkel und biss mit aller Kraft zu.
    »Scheiße! Du Arschloch.«
    »Wichser.«
    Jemand packte ihn vorn am Hemd und riss ihn hoch. Ein zornbleiches Gesicht. Schmerz. Als Raymond rückwärts gegen die Scheibe taumelte, sah er kurz die Klinge, das Messer. Dann war es auch schon wieder in irgendeiner Hosentasche verschwunden, und sie waren weg. Überheblich stolzierten sie über die Straße, ehe sie zu laufen begannen.
    Jetzt blickte Raymond wieder in dieses Gesicht, braune Augen, der dunkle Schatten eines Schnurrbarts; der Messerstecher saß mit drei anderen Typen an einem Tisch. Sie steckten die Köpfe zusammen, während ein Mädchen mit violetten Knutschflecken und schwarzem Dauerwellenhaar krampfhaft versuchte, einen Witz fertig zu erzählen,obwohl sie vor Lachen kaum noch sprechen konnte. Doch der Typ, den Raymond erkannt hatte, hörte gar nicht richtig zu, er wusste jetzt, wer Raymond war, erinnerte sich; mit großspuriger Geste stand er auf und ging mit dem leeren Glas in der Hand zum Tresen. Bestellte noch ein Lager, Heineken vom Fass, bezahlte, wartete auf sein Wechselgeld und ließ Raymond dabei nicht aus den Augen. Ein Lächeln jetzt, als er sich aufrichtete, der Mund aber blieb hart. Komm doch her, du Schwuchtel, du schwules Stück Scheiße, was willst du, hm?
    Raymond hatte sich an jenem Abend vor Wochen vorsichtig aufgesetzt und an das Schaufenster gelehnt, während die Passanten über seine ausgestreckten Beine hinwegstiegen oder um sie herumgingen. Zuerst hatte er sich nicht getraut, das weiche Fleisch oberhalb seiner Hüfte zu betasten, wo das Messer eingedrungen war. Unsicher auf den Beinen, alle zehn Schritte pausierend, hatte er sich schließlich an dem Rondell aus niedrigen Büschen vorbeigeschleppt, in denen ein ausrangierter Slip, matschige Erbsen, Pizzareste und Pappschachteln von Kentucky Fried Chicken und Burger King hingen, weiter an den Toiletten vorüber zum Taxistand am unteren Ende des Platzes.
    »Queens«, sagte er und zuckte zusammen, als er sich auf den Sitz schob.
    »Welcher Eingang?«
    »Notaufnahme.«
    Ein paar verkleidete Frauen tanzten Polonaise auf dem Fußgängerüberweg vor ihnen – Minni Maus, Lady Marian, Madonna –, ein lärmender Junggesellinnenabschied.
    Vor dem Krankenhaus beschimpfte der Fahrer Raymond, weil er ihm den Sitz

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