Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
noch einmal neuem Licht erscheinen lässt – im Fall von »Zweivierteltakt, e-Moll« verliert die Protagonistin zwar die Auseinandersetzung mit der Bürokratie, zieht daraus aber die Kraft, nun etwas wirklich Dramatisches zu tun. Und erst da ist die Geschichte zu Ende und lässt den Leser mit dem bohrenden Gedanken zurück, was da nun noch alles passieren kann.
Ein anderes Beispiel für diese Technik des Immer-noch-mal-an-der-Schraube-Drehens ist »Trigger«. Darin geht es um eine Konzern-Expedition, die auf einem fernen Planeten nach Bodenschätzen sucht und schier verzweifelt, weil die Eingeborenen zwar freundlich sind und verhandlungsbereit, es aber ums Verrecken nichts Wertvolles zu finden gibt. Bis man einen Berg entdeckt, der ein ungeheuer wertvolles Element enthält, den die Aliens aber nicht angetastet sehen wollen. Natürlich setzt der Konzern sich darüber hinweg und erlebt sein blaues Wunder. So weit, so bekannt; rücksichtslose Konzerne und Behörden kriegen in Jänchens Geschichten sowieso des Öfteren ihr Fett weg. Dann aber stellt sich heraus, dass es Überlebende dieser Katastrophe gibt – Überlebende, die die Gedanken anderer Menschen lesen können, ja sogar müssen, und dass die Außerirdischen genau deswegen die Konzernleute davon abhalten wollten, an dem besagten Berg herumzupfuschen. Von diesem Punkt an erscheinen alle bisherigen Dialoge in neuem Licht – wie will man schließlich mit jemandem reden, dessen Gedanken man kennt? Oder mit so jemandem zusammenleben?
Ich habe keine Ahnung, ob Heidrun Jänchen die Storys von Philip K. Dick studiert hat, aber die Art und Weise, wie sie die besagte Schraube dreht, erinnert doch sehr wohlig an den berühmten Amerikaner, der seine Geschichten auch gern Haken schlagen ließ.
In »Marias Sohn« variiert die Autorin ein Thema, das sie bereits in der preisgekrönten (und hier also nicht enthaltenen) Geschichte »In der Freihandelszone« verwendet hat, allerdings auf ganz andere Weise. Wieder geht es um patentiertes Erbgut, das einem der besagten Konzerne gehört – und auf rätselhafte Weise in die DNS eines Kindes gelangt ist. Dies allein ist keine Science Fiction: Tatsächlich weiß die Wissenschaft heute, dass miteinander eigentlich völlig inkompatible Lebewesen in der Natur hin und wieder Gene untereinander austauschen (eine Erkenntnis übrigens, die die weitverbreitete Furcht vor gentechnisch veränderten Produkten reichlich irrational wirken lässt).
Aber das Wie und Warum interessiert überhaupt nicht, und auch die Szene, in der man der Unterschicht-Frau ohne großes Federlesen ihr Baby beschlagnahmt, ist nur Beiwerk zu einer atemberaubenden Serie von Drehungen an der Schraube. Die Geschichte verfolgt den Lebensweg des Jungen, der ein für Menschen völlig bedeutungsloses Gen (für die Resistenz gegen einen Maisschädling) in sich trägt, durch seine Kindheit und Jugend hindurch, durch Rechtsinstanzen und politische Auseinandersetzungen bis hinein in ein Happy End, das bei den Geschichten dieses Bangens eher selten ist. Das Ganze ist keine zwanzig Seiten lang, liest sich aber, als wäre es ein Roman. Allerdings ein Roman, der nur hier und da auserzählte Szenen bietet, zwischen denen sich die Handlung eher in einer Art Exposé-Stil rasant vorwärtsbewegt.
Ganz anders dagegen »Die Stadt in der Steppe«. Diese Erzählung beginnt mit einem 14-jährigen, eher unansehnlichen Mädchen, das in einer Forschungseinrichtung ausgebrütet und aufgezogen wurde, die übernatürliche Fähigkeiten beim Menschen herauszüchten soll. Sie hat keinen Namen, sondern trägt die Kennzeichnung K8. Wenn man das wie »Kate« ausspricht, klingt es wenigstens wie ein eigener Name. K8 ist Telepathin, was die Menschen in ihrer Umgebung stark beunruhigt, und sie wird dem Geheimdienst überstellt, wo sie beim Verhör von Terrorismus-Verdächtigen helfen muss. Aber das funktioniert nicht wie gewollt, denn der Telepath ist auch ein Mensch: K8 entwickelt Verfahren, wie sie ihre Gedanken-Lesefähigkeit so auslegen kann, dass ein Verhör nach ihrem Willen ausgeht, und benutzt dann ihre Begabung, um zu entwischen. Hier könnte Schluss sein, die Telepathie hat sich gegen die Leute gewendet, die sie ausnutzen wollten … aber die Geschichte geht noch weiter. K8 verwendet die Gedanken, die sie liest, um unterwegs ihre Gesprächspartner zu manipulieren, und kommt so tatsächlich mit ihrer Flucht durch. Für sie werden Menschen zu interessanten Objekten, und so schleicht sie sich
Weitere Kostenlose Bücher