Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
Geschichte, das zweite und vorletzte ebenfalls usw. Eine Teilung, die immer wieder auch inhaltlich thematisiert wird: So liest der Held der zweiten Geschichte beispielsweise das »Pacifiktagebuch des Adam Ewing«, das die erste Geschichte beinhaltet, muss jedoch nach der Hälfte feststellen, dass der Rest des Buches fehlt – ist an dieser Stelle also genau so schlau wie der Leser des »Wolkenatlas«. Diese Spielereien auf der Metaebene ziehen sich durch den ganzen Roman, der auch stilistisch zahlreiche Kapriolen schlägt und für jede erzählte Handlungseinheit eine eigene Sprache wählt. Vom klassischen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts über den Krimi-Pulp der 70er bis hin zur rudimentären neo-indigenen Sprache nach dem Sturz der Menschheit in vorzivilisierte Zeiten hat jeder Teil seine eigene Identität und Struktur. Und doch sind alle Geschichten miteinander verknüpft und durch zahlreiche Querverweise verbunden, nicht nur formal (jede Geschichte ist als solche diegetischer Teil der nächsten, sei es als Tagebuch, Briefsammlung, Romanmanuskript oder digitale Aufzeichnung), sondern vor allem thematisch und motivisch. In allen geht es um die Wechselwirkung von Freiheit und Abhängigkeit, von Unterdrückung und kreativer Entfaltung, von Zivilisation und Barbarei und um nichts weniger als die Natur des Menschen. Mitchell möchte verdeutlichen, dass es sich hier um universelle Themen handelt, um Aspekte menschlicher Gesellschaften, die über alle Grenzen von Zeit und Raum hinaus Bestand haben und höchstens in ihrer Intensität verschiedene Formen annehmen. Dabei ermöglicht es ihm die verschachtelte zeitliche Struktur zu zeigen, dass die Zukunft immer schon in der Gegenwart angelegt ist – ein Punkt, den er immer wieder stark betont. Sein Roman repräsentiert in weiten Teilen eine fiktionale Extrapolation von Nietzsches Konzept der »ewigen Wiederkunft«, eines zyklischen kosmologischen Zeitverständnisses, das er explizit erwähnt und dem er mit Andeutungen auf mögliche reinkarnative Vorgänge eine religiös-mystische Komponente hinzufügt, die dem Roman ihren Titel gibt: »Seelen wandern durch die Zeiten wie die Wolken übern Himmel. Wer weiß schon, von wo ’ne Wolke hergeweht is und was fürn Mensch ’ne Seele morgen sein wird? Nur der Atlas von den Wolken.«
Sehr ambitionierter Stoff, sicher. Und leider fällt selbst nach hundert Jahren Kinokunst im Zusammenhang mit solchen Werken immer noch beinahe reflexhaft das Urteil »unverfilmbar«, ein zutiefst derogatorisches Attribut, das im Kern die ästhetische Überlegenheit der Literatur über den Film suggeriert. Dabei haben gerade in letzter Zeit eine Reihe von vermeintlich unadaptierbaren Romanvorlagen die Grundlage für beeindruckendes Kino geliefert, von Ang Lees Life Of Pi über David Cronenbergs Cosmopolis bis hin zu Walter Salles’ On The Road . Eigentlich keine neue Erkenntnis, denn bereits Eisenstein machte mit seinem Versuch, Karl Marx’ »Das Kapital« zu verfilmen, deutlich, dass Kino seinen eigenen Gesetzen gehorcht, die eben nichts ausschließen, aber alles inkorporieren.
»Unverfilmbar« gilt also nicht – und in Bezug auf »Der Wolkenatlas« schon gar nicht, denn die in dem Roman enthaltenen Geschichten bieten ganz im Gegenteil eine äußerst reichhaltige Fülle von Szenen, die einer filmischen Adaption geradezu Tür und Tor öffnen. Die Schwierigkeiten dabei entspringen eher den strukturellen Eigenheiten des Romans, den reichhaltigen inhaltlichen Bezügen sowie den sprachlichen Besonderheiten. Schwierigkeiten, denen sich das eigenwillige Regietrio aus Tom Tykwer, Lana und Andi Wachowski mutig stellte, alles auf eine Karte setzte – und am Ende auf ganzer Linie gewann.
Cloud Atlas ist ein in jeder Hinsicht monumentales Werk, das filmische Äquivalent eines tausendseitigen Romanbestsellers, eine visuell-sinfonische Ode an das Geschichtenerzählen und das Musterbeispiel einer gelungenen Literaturadaption. Tykwer und die Wachowskis verdichten die Elemente der sechs Geschichten des Romans auf das Wesentliche und arbeiten so die thematischen Bezüge heraus; sie geben die strenge Bogenstruktur des Buchs zugunsten eines aufgelockerten Springens zwischen den Zeit- und Raumebenen auf, eine Entscheidung, die es ihnen ermöglicht, motivische Parallelen zwischen den einzelnen Geschichten zu betonen. Eine Verschiebung, die sie mit genuin filmischen Mitteln erreichen – zahlreiche Match-Cuts schaffen immer wieder visuelle Verbindungen,
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