Das Siegel der Tage
abzuholen. Großmutter Hilda ertrug wie ein Soldat die Stechmücken, die abendlichen Gelage mit lauwarmer Cola mit Rum, die Dosenbohnen, die bissigen Mäuse, die zwischen den Schlafsäcken nisteten, und andere Zumutungen mehr, die ich, obwohl zwanzig Jahre jünger, nie im Leben ausgehalten hätte. Mit derselben bewundernswerten Zähigkeit setzte sie sich vor den Fernseher und sah sich Pornofilme an. Anfang der achtziger Jahre studiertest du Psychologie und hattest vor, dich in Sexualwissenschaft zu spezialisieren. Ständig trugst du einen Koffer mit Zubehör für erotische Spiele herum, was ich ziemlich geschmacklos fand, dir aber nicht zu sagen wagte, weil du dich über meine Zimperlichkeiten gnadenlos lustig gemacht hättest. Großmutter Hilda setzte sich mit ihrem Strickzeug zu dir, strickte vor sich hin, ohne auf die Nadeln zu schauen, und sah sich mit dir ekelhafte Videos an, in denen abgerichtete Hunde vorkamen. Sie war aktives Mitglied unserer ambitionierten Familientheatergruppe, nähte Kostüme, malteBühnenbilder und spielte jede gewünschte Rolle, von Madame Butterfly bis zum heiligen Josef im Krippenspiel. Mit den Jahren wurde sie immer kleiner, und ihre Stimme verebbte zu einem feinen Zwitschern, aber ihre Begeisterung für die spinnerten Ideen der Familie blieb ungebrochen.
Großmutter Hildas Ende zu begleiten war nicht uns, sondern ihrer Tochter vorbehalten, die sich während ihres raschen Verfalls um sie kümmerte. Es begann mit wiederholten Lungenentzündungen, Spätfolgen ihrer Zeit als Raucherin, sagten die Ärzte, und dann vergaß sie nach und nach ihr Leben. Hildita verstand diese letzte Phase im Leben ihrer Mutter als eine Rückkehr in die Kindheit und entschied, wenn man seine Geduld an zweijährige Kinder verschwende, gebe es keinen Grund, einer Achtzigjährigen gegenüber damit zu geizen. Sie sorgte liebevoll dafür, daß Hilda sich wusch, daß sie aß, ihre Vitamine nahm, abends ins Bett ging; sie mußte ihr zehnmal hintereinander dieselbe Frage beantworten und so tun, als hörte sie zu, wenn Hilda irgendeine Belanglosigkeit erzählte und sie dann wie eine hängende Schallplatte ein ums andere Mal in genau den gleichen Worten wiederholte. Schließlich war Großmutter Hilda diese Nebelbank der wirren Erinnerungen leid, durch die sie ruderte, die Angst, daß sie alleinbleiben oder hinfallen könnte, das Knarren ihrer Knochen und die Belagerung durch Gesichter und Stimmen, die sie nicht zuordnen konnte. Eines Tage hörte sie auf zu essen. Hildita rief mich aus Spanien an und erzählte mir von Schlachten, die sie schlagen mußte, bis ihre Mutter einen Joghurt zu sich nahm, und ich wußte nichts zu sagen, als daß sie sie nicht zwingen solle. Mein Großvater war auf diese Weise gestorben, an Appetitlosigkeit, als er meinte, hundert Jahre seien zu viel für ein Leben
Nico nahm am nächsten Tag ein Flugzeug nach Madrid. Großmutter Hilda erkannte ihn sofort, obwohl sie sich selbst im Spiegel nicht erkannte, bat kokett um ihrenLippenstift und forderte ihn zu einem Kartenspiel heraus, das sie mit allen gewohnten Tricks und Kniffen absolvierten. Nico brachte sie dazu, als Reminiszenz an karibische Zeiten lauwarme Cola mit Rum zu trinken, und von da bis zum ersten Tellerchen Suppe verging nur eine halbe Stunde. Der Besuch ihres Ersatzenkels und das Versprechen, wenn sie wieder bei Kräften wäre, könne sie nach Kalifornien kommen und mit Tabra Gras rauchen, schafften das Wunder, daß Großmutter Hilda wieder zu essen begann, aber der Appetit hielt nur zwei Monate vor. Als sie erneut in den Hungerstreik trat, sah die Tochter tieftraurig ein, daß ihre Mutter alles Recht der Welt hatte, zu gehen wie und wann sie wollte. Aus Großmutter Hilda, die immer schon eine kleine, schmale Frau gewesen war, wurde in den folgenden Wochen ein winziges Gespenstchen mit großen Ohren, so leicht, daß ein Luftzug vom Fenster sie anhob. Sie verabschiedete sich mit den Worten: »Meine Handtasche, bitte, Paula ist gekommen, um mich abzuholen, und ich will sie nicht warten lassen.«
Ich landete ein paar Stunden später in Madrid, zu spät, um Hildas Tochter bei den Verrichtungen des Todes zur Seite zu stehen. Wenige Tage darauf kehrte ich mit einer Handvoll Asche in einem Kästchen nach Kalifornien zurück, um sie in deinem Wald auszustreuen, denn Großmutter Hilda hatte in deiner Nähe sein wollen.
Grübeleien
2006 habe ich diese Seiten begonnen. Meinem Ritual treu zu bleiben und jeden 8. Januar ein neues Buch
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