Der zehnte Richter
ERSTES KAPITEL
Ben Addison schwitzte. Schwitzte, daß ihm das Wasser herunterlief. Dabei konnte er das gerade am wenigsten brauchen.
In den vergangenen drei Stunden hatte Ben die neuesten Ausgaben der Washington Post, der New York Times, der Legal Times und von Law Week gelesen. Gestern Abend hatte er sich vor dem Einschlafen jeden wichtigen Fall ins Gedächtnis gerufen, der in der letzten Sitzungsperiode des Obersten Gerichtshofs behandelt worden war. Außerdem hatte er eine Liste mit jedem Votum zusammengestellt, das Richter Mason Hollis je abgegeben hatte, und zur Sicherheit hatte er auch Hollis' Biographie noch einmal durchgelesen. Worum es auch gehen mochte, Ben war überzeugt, daß er auf jedes Gesprächsthema vorbereitet war, das Richter Hollis anschneiden konnte. Seine Aktentasche war gepackt mit zwei Notizblöcken, vier Kugelschreibern, zwei Bleistiften, einem juristischen Lexikon im Taschenformat, einem kleinen Wörterbuch und einem Truthahn-Sandwich. Er hatte gehört, daß die Mitarbeiter des Obersten Gerichts normalerweise die Mittagspause durcharbeiteten. Keine Frage: Ben Addison war auf alles vorbereitet.
Und trotzdem schwitzte er, daß ihm das Wasser herunterlief.
Es war Bens erster Arbeitstag, und er stand eine halbe Stunde zu früh vor dem Gerichtsgebäude, in den Bann gezogen von den leuchtend weißen Säulen, die das höchste Gericht des Landes schmückten. Das ist es, dachte er und atmete tief ein. Jetzt hab' ich's endlich geschafft. Ben fuhr mit der Hand durch sein frisch geschnittenes braunes Haar und stieg die breiten Marmorstufen hinauf. Dabei zählt er jeden Schritt, falls Richter Hollis sich dafür interessieren sollte, wie viele Stufen es gab. Vierundvierzig, murmelte er vor sich hin und prägte sich den Sachverhalt gut ein.
Ben zog die schwere Bronzetür auf und betrat das Gebäude. »Sie wünschen?« fragte ein neben einem Metalldetektor sitzender Sicherheitsbeamter.
»Mein Name ist Ben Addison. Ich bin einer der neuen Assistenten.«
Der Wachmann fand Bens Namen auf seiner Liste. »Die Einführung beginnt erst in einer halben Stunde.«
»Ich bin gern pünktlich«, erwiderte Ben lächelnd.
»Klar«, sagte der Wachmann augenrollend. »Gehen Sie einfach die Halle entlang und den ersten Gang links. Dann ist es die erste Tür rechts.«
Mit Marmorbüsten ehemaliger Richter dekoriert, war die leuchtend weiße Große Halle noch genauso eindrucksvoll wie beim ersten Mal. Ein verschmitztes Lächeln spielte um Bens Mund, als er an den Standbildern vorüberging. »Hallo, Oberster Gerichtshof«, flüsterte er sich zu. »Hallo, Ben«, war seine eigene Antwort.
Ben zog die große Holztür auf. Er hatte erwartet, ein leeres Zimmer vorzufinden, aber da saßen schon acht weitere Personen. »Arschkriecher«, brummte Ben vor sich hin, als er sich auf den einzigen leeren Stuhl im Zimmer setzte.
So unauffällig wie möglich taxierte Ben seine neuen Kollegen. Er erkannte drei. Ganz rechts saß ein gutgekleideter Mann mit einer modischen Brille mit Schildpattgestell, der in der Redaktion der Stanford Law Review gearbeitet hatte. Die großgewachsene Schwarze zu seiner Linken war eine ehemalige Chefredakteurin der Harvard Law Review. Ben hatte beide in Yale bei einer nationalen Konferenz für die Mitarbeiter juristischer Fachzeitschriften kennengelernt. Soweit er sich erinnerte, hatte der Stanford-Mann davor als Reporter für die Los Angeles Times gearbeitet, die Harvard-Frau war bei Sotheby's für Expertisen über alte Meister zuständig gewesen. Sie hieß Angela. Angela und dann irgend etwas mit P. Direkt neben Ben saß Joel Westman, ein früherer Kommilitone an der juristischen Fakultät der Yale University. Ursprünglich hatte er sich mit Politik beschäftigt und vor seinem Jurastudium Reden für das Weiße Haus geschrieben. Ganz hübsche Lebensläufe, dachte Ben. Er bemühte sich, möglichst unbefangen zu wirken, lächelte und nickte allen drei Bekannten freundlich zu. Sie erwiderten die Geste.
Nervös tappte Ben mit dem Fuß auf den dicken Teppichboden. Mach dir keine Sorgen, sagte er sich. Alles wird glattgehen. Du bist genauso schlau wie alle anderen. Aber auch genauso weltgewandt? Aus genauso guter Familie? Darauf kam es nicht an. Denk daran, daß diese Unterhose dir schon immer Glück gebracht hat, beruhigte er sich. Ben hatte die inzwischen ausgefransten roten Boxershorts in seinem ersten Semester an der Columbia University erstanden. Er hatte sie bei der ersten Sitzung jedes Seminars
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