Das Siegel der Tage
Handtasche durchwühlt hatte. Damals besaß Jennifer noch einen letzten Rest Unschuld, doch als sie Jahre später aus der Obhut dieses philippinischen Arztes aus der Klinik davonlief, war von dem Mädchen, das ich seinerzeit im Gefängnis kennengelernt hatte, nichts mehr geblieben. Mit sechsundzwanzig Jahren sah sie aus wie eine Frau von sechzig.
Als wir das Gefängnis verließen, regnete es, und durchnäßt rannten Willie und ich die zwei Straßen bis zu dem Parkplatz, auf dem unser Auto stand. Ich fragte ihn, warum er so kalt mit seiner Tochter umging, nicht dafür sorgte, daß sie einen Entzug machte, und sie statt dessen hinter Gittern ließ.
»Weil sie dort sicherer ist«, sagte er.
»Kannst du denn nichts tun? Es muß doch irgendeine Behandlung geben!«
»Es bringt nichts, sie hat sich nie helfen lassen wollen, und ich kann sie nicht mehr zwingen, sie ist volljährig.«
»Wenn sie meine Tochter wäre, ich würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sie zu retten.«
»Sie ist nicht deine Tochter«, sagte er mit einer Art dumpfem Groll in der Stimme.
Damals scharwenzelte ein junger Christ um Jennifer herum, einer dieser Trinker, die durch die frohe Botschafterlöst worden sind und sich nun der Religion ebenso inbrünstig widmen wie zuvor der Flasche. Wir sahen ihn manchmal an den Besuchstagen im Gefängnis, stets mit der Bibel in der Hand und dem beseelten Lächeln der von Gott Auserwählten auf den Lippen. Immer begrüßte er uns mit der Mitleidsmiene, die den verirrten Schäfchen Gottes vorbehalten war, und das machte Willie rasend, erzielte bei mir indes die erwünschte Wirkung: Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Es braucht sehr wenig, damit ich mich schuldig fühle. Hin und wieder nahm der Beseelte mich beiseite, und während er das Neue Testament bemühte – »Aber Jesus sprach zu denen, die die Ehebrecherin steinigen wollten: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie« –, sah ich fasziniert auf seine schlechten Zähne und versuchte dem Niesel seiner feuchten Aussprache zu entgehen. Ich habe keine Ahnung, wie alt er war. Solange er den Mund hielt, wirkte er mit seinem pickligen Milchgesicht sehr jung, aber dieser Eindruck war sofort dahin, wenn er mit schriller Stimme und großer Geste zu predigen anhob. Anfangs versuchte er Jennifer durch die Logik seines Glaubens in die Reihen der Gerechten zu locken, biß damit aber bei ihr auf Granit. Dann entschied er sich für bescheidene Geschenke, die bessere Ergebnisse zeitigten: Für eine Handvoll Zigaretten ließ Jennifer auch eine Weile evangelikale Belehrungen über sich ergehen. Als sie entlassen wurde, erwartete er sie in einem sauberen Hemd und einer Parfümwolke vor dem Tor. Er pflegte uns zu nachtschlafener Zeit anzurufen, um uns von seinem Schützling zu berichten und Willie daran zu gemahnen, daß er seine Sünden bereuen und dem Herrn sein Herz aufschließen müsse, weil er dann die Taufe der Auserwählten erhalten und unter dem Schirm der göttlichen Liebe erneut zu seiner Tochter finden könne. Er wußte nicht, mit wem er es zu tun hatte: Willie ist der Sohn eines ausgeflippten Predigers, er ist in einem Zelt aufgewachsen, in dem sein Vater miteiner dicken zahmen Schlange um die Hüften den Gläubigen seine erfundene Religion verkündete; sobald etwas nur nach Predigt riecht, sieht Willie zu, daß er fortkommt. Dieser kleine Evangelikale war nach Jennifer verrückt, von ihr geblendet wie eine Motte vom Licht. Er war hin- und hergerissen zwischen mystischer Inbrunst und fleischlicher Begierde, dem Wunsch, die Seele dieser Magdalena zu retten, und dem Verlangen nach ihrem Körper, der zwar ein wenig beschädigt, aber doch immer noch erregend sei, wie er uns einmal derart treuherzig gestand, daß wir uns nicht über ihn lustig machen konnten. »Ich werde dem Rausch der Wollust nicht verfallen, ich werde sie heiraten«, versicherte er uns und ließ gleich darauf einen Sermon über die Keuschheit in der Ehe vom Stapel, daß uns die Spucke wegblieb. »Der Typ ist dumm oder schwul«, war Willies Kommentar dazu, doch klammerte er sich dennoch an diese Heiratsidee, weil der schräge Vogel mit den guten Absichten seine Tochter vielleicht retten würde. Als er Jennifer allerdings auf Knien seinen Antrag machte, lachte die ihn nur aus. Der kleine Prediger wurde in einer Spelunke am Hafen totgeschlagen, als er einmal abends die friedvolle Botschaft Jesu unter Seeleuten und Zuhältern verkünden wollte, die nicht gut aufs
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