Das Siegel der Tage
Christentum zu sprechen waren. Wir wurden nie mehr um Mitternacht von seinen messianischen Anrufen geweckt.
Jennifer hatte als Kind immer abseits gestanden, war übergangen worden, während ihr zwei Jahre älterer Bruder Lindsay alle Aufmerksamkeit der Erwachsenen absorbierte, weil er nicht zu bändigen war. Sie war ein Mädchen mit guten Manieren, schwer zu durchschauen, und besaß einen für ihr Alter zu ausgefeilten Humor. Sie lachte über sich selbst, ein helles und ansteckendes Lachen. Niemand ahnte, daß sie sich nachts durch ein Fenster davonstahl, bis sie einmal meilenweit von daheim aufgegriffen wurde, in einer der übelsten Gegenden von San Francisco, wo sich diePolizei nach Einbruch der Dunkelheit nur ungern blicken ließ. Damals war sie fünfzehn. Ihre Eltern waren seit Jahren geschieden; beide führten ihr eigenes Leben, und vielleicht unterschätzten sie die Schwere des Problems. Willie hatte Mühe, in dem Mädchen mit den schwarz geschminkten Augen, das sich weder auf den Beinen halten noch sprechen konnte und schlotternd in einer Arrestzelle lag, seine Tochter zu erkennen. Stunden später, sicher in ihrem Bett und wieder etwas klarer im Kopf, gelobte Jennifer ihrem Vater Besserung und daß sie nie wieder solche Dummheiten machen werde. Er glaubte ihr. Alle Heranwachsenden stolpern mal und fallen; er selbst hatte als Junge ja auch seine Schwierigkeiten mit dem Gesetz gehabt. Das war in Los Angeles gewesen, als er dreizehn war. Er hatte Eiscreme geklaut und mit den mexikanischen Jungs aus dem Viertel Gras geraucht. Mit vierzehn war ihm klargeworden, daß er sich allein aus dem Sumpf ziehen mußte oder darin steckenbleiben würde, weil er niemanden hatte, der ihm half, also ließ er die Straßengangs hinter sich, machte die Schule fertig, arbeitete, um sich das Studium zu finanzieren, und wurde Anwalt.
Daß sie aus der Klinik und der Obhut des philippinischen Arztes davongelaufen war, kostete Jennifer nicht das Leben, denn sie war sehr stark, auch wenn sie nicht so aussah, und längere Zeit hörten wir nichts von ihr. Irgendwann im Winter erreichte uns das vage Gerücht, sie sei schwanger, doch hielten wir das für ausgeschlossen; sie hatte uns selbst gesagt, sie könne keine Kinder bekommen, sie hatte zu viel Schindluder mit ihrem Körper getrieben. Drei Monate später erschien sie in Willies Büro, um ihn um Geld anzugehen, was so gut wie nie vorkam: Lieber schlug sie sich allein durch, dann mußte sie keine Erklärungen abgeben. Ihre Augen suchten verzweifelt nach einem Halt, den sie nicht fanden, und ihre Hände zitterten, aber ihre Stimme klang fest.
»Ich bin schwanger«, verkündete sie ihrem Vater.
»Unmöglich!«
»Das dachte ich auch, aber schau …« Sie knöpfte das Männerhemd auf, das ihr bis zu den Knien reichte, und zeigte ihm eine Wölbung, so groß wie eine Pampelmuse. »Es wird ein Mädchen, und sie kommt im Sommer zur Welt. Ich werde sie Sabrina nennen. Ich habe den Namen immer gemocht.«
Jedes Leben ein Roman
Ich verbrachte fast das ganze Jahr 1993 hinter geschlossenen Türen mit meinen Tränen und Erinnerungen und schrieb dabei an dich, Paula, konnte jedoch eine lange Lesereise nicht abwenden, auf der ich in mehreren nordamerikanischen Städten Der unendliche Plan vorstellen sollte, einen Roman, der von Willies Leben inspiriert ist; das Buch war gerade auf englisch erschienen, geschrieben hatte ich es indes bereits zwei Jahre zuvor, und in Europa war es schon in etlichen Sprachen erhältlich. Den Titel hatte ich Willies Vater entwendet, dessen Wanderreligion sich »Der unendliche Plan« nannte. Willie schickte mein Buch als Geschenk an alle seine Freunde und Bekannten, ich schätze, er kaufte die gesamte erste Auflage auf. Er prahlte damit, als handelte es sich um seine Biographie, und ich mußte ihn erinnern, daß es eine fiktive Geschichte war. »Mein Leben ist ein Roman«, entgegnete er. Jedes Leben kann wie ein Roman erzählt werden, wir alle sind die Hauptfigur unserer eigenen Geschichte. Gerade eben, während ich das schreibe, befallen mich Zweifel. Hat sich alles so zugetragen, wie ich mich daran erinnere und davon berichte? Sicher, ich schaue in den Briefwechsel mit meiner Mutter, in dem wir einander jeden Tag mehr oder weniger wahrheitsgetreu von den banalsten wie von der bedeutendsten Ereignissen unseres Lebens berichten, doch was ich hier niederschreibe, bleibt subjektiv. Willie meinte, das Buch sei wie eine Karte seines Lebenswegs, und bedauerte dann, daß Paul
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