Das Siegel der Tage
ernstzunehmendes Hindernis ansah. Nach einer Weile hatte ich Nico und seine Familie zwei Straßen von uns daheim untergebracht, und hätte der Tod dich nicht so früh von mir fortgerissen, würdest du jetzt auch nebenan wohnen.
Ich brach also 1993 zu dieser Reise durch die Vereinigten Staaten auf, um für meinen neuen Roman zu werben und die Vorträge zu halten, die ich im Jahr zuvor abgesagt hatte, als ich nicht von deiner Seite weichen konnte. Hast du gespürt, daß ich bei dir war, Tochter? Das habe ich mich oft gefragt. Was hast du geträumt in der langen Nacht des Jahres 92? Daß du geträumt hast, weiß ich sicher, denn deine Augen bewegten sich unter den Lidern, und manchmal schrecktest du hoch. Im Koma zu liegen muß sein, wie wenn man im dichten Nebel eines Albtraums gefangen ist. Die Ärzte behaupteten, du nähmst nichts wahr, aber mir fällt es schwer, das zu glauben.
Auf der Reise hatte ich einen Beutel vollerSchlaftabletten, Pillen gegen eingebildete Schmerzen, zum Ersticken meines Kummers und gegen die Angst vor dem Alleinsein dabei. Willie konnte mich nicht begleiten, weil er arbeiten mußte; seine Kanzlei war selbst sonntags geöffnet, der Warteraum immer voller Bittsteller, und auf seinem Schreibtisch stapelten sich die anhängigen Fälle. Zu der Zeit hatte er sich in die Tragödie eines mexikanischen Einwanderers verbissen, der aus dem fünften Stock eines Rohbaus in San Francisco in den Tod gestürzt war. Der Mann hieß Jovito Pacheco und war neunundzwanzig Jahre alt gewesen. Offiziell gab es ihn nicht. Das Bauunternehmen tat unschuldig, weil der Name nicht in seinen Personallisten stand. Der Subunternehmer war nicht versichert und behauptete ebenfalls, einen Pacheco nicht zu kennen; er hatte ihn einige Tage zuvor zusammen mit zwanzig weiteren Illegalen von einem Lastwagen herunter angeheuert und zu der Baustelle gekarrt. Jovito Pacheco war Bauer und noch nie auf einem Gerüst gewesen, aber er besaß ein breites Kreuz und wollte unbedingt arbeiten. Niemand sagte ihm, er solle einen Sicherungsgurt benutzen. »Und wenn ich die halbe Welt vor Gericht zerren muß, ich sorge dafür, daß diese arme Familie eine Entschädigung bekommt!« hörte ich tausendmal von Willie. Offenbar war es kein einfacher Fall. Willie hatte ein verblichenes Foto der Familie Pacheco im Büro: Vater, Mutter, Großmutter, drei kleine Kinder und ein Säugling, alle für den Kirchgang zurechtgemacht und in einer Reihe nebeneinander unter der sengenden Sonne auf einem mexikanischen Dorfplatz. Der einzige mit Schuhen an den Füßen war Jovito Pacheco, ein dunkelhäutiger Indio mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen und einem verbeulten Strohhut in der Hand.
Ich war auf meiner Rundreise von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, eine elegante Farbe, wie ich mir einredete, denn noch nicht einmal vor mir selbst wollte ich zugeben, daß ich Trauer trug. »Du siehst aus wie eine chilenische Witwe«,sagte Willie und schenkte mir ein feuerwehrrotes Halstuch. Ich kann mich nicht an die Städte erinnern, in denen ich war, nicht an die Menschen, mit denen ich sprach, nicht an das, was ich tat, und es spielt keine Rolle, nur daß ich mich in New York mit Ernesto traf. Dein Mann war ganz aufgeregt, als ich ihm von dem Buch erzählte, das ich über dich schrieb. Wir weinten zusammen, und unsere gemeinsame Trauer löste einen Hagelsturm über der Stadt aus. »Daß es um die Jahreszeit hagelt, kommt vor«, sagte Nico am Telefon zu mir. Mehrere Wochen verbrachte ich wie hypnotisiert fern von den Meinen. Abends sank ich von Schlaftabletten betäubt in unbekannte Betten, und morgens spülte ich die Albträume mit pechschwarzem Kaffee fort. Ich telefonierte mit den in Kalifornien Gebliebenen und schickte meiner Mutter Briefe per Fax, die mit der Zeit getilgt wurden, weil sie mit lichtempfindlicher Tinte ausgedruckt waren. Viele Ereignisse dieser Zeit sind verloren; ich bin sicher, es ist besser so. Ich zählte die Tage, bis ich wieder nach Hause zurück und mich vor der Welt verkriechen konnte; ich wollte bei Willie schlafen, mit meinen Enkeln spielen und Trost darin finden, in der Werkstatt meiner Freundin Tabra Halsketten zu machen.
Ich hörte, Celia verliere in der Schwangerschaft Gewicht, statt welches zuzulegen, mein Enkel Alejandro gehe schon mit dem Ranzen in den Kindergarten und Andrea müsse an den Augen operiert werden. Meine Enkelin war sehr klein, hatte einen goldenen Flaum auf dem Kopf und schielte zum Gotterbarmen; ihr linkes Auge tat,
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