Das Siegel der Tage
sogar am Sonntag hergekommen, um sie zu besuchen, weil sie mir nicht aus dem Kopf geht.«
»Glauben Sie, daß sie sterben wird?« fragte ich mit erstickter Stimme.
»Das behaupten die Ärzte. Sie haben es ja gehört. Aber ich weiß, daß sie überlebt. Sie ist gekommen, um zu bleiben, sie hat ein gutes Karma.«
Karma. Schon wieder. Wie oft habe ich dieses Wort in Kalifornien gehört! Der Gedanke an ein Karma macht mich schier wahnsinnig. An ein Schicksal zu glauben ist schon reichlich beengend, aber der Glaube an ein Karma ist noch viel schlimmer, weil das auf Tausende früherer Leben zurückgeht, und manchmal muß man noch dazu die Untaten der Ahnen auf sich nehmen. Das Schicksal läßt sich beeinflussen, aber um das eigene Karma reinzuwaschen, braucht es ein ganzes Leben, und vielleicht reicht auch das nicht hin. Aber das war nicht der richtige Augenblick, um mit Odilia philosophische Gespräche zu führen. Ichempfand grenzenlose Zärtlichkeit für das kleine Mädchen und Dankbarkeit gegenüber der Krankenschwester, die es ins Herz geschlossen hatte. Ich vergrub das Gesicht in dem Windelbündel, froh, daß Sabrina auf der Welt war.
Uns gegenseitig haltend, verließen Willie und ich den Saal. Wir liefen durch völlig gleich aussehende Flure auf der Suche nach dem Ausgang, bis wir schließlich einen Aufzug fanden. Ein Spiegel im Innern warf unser Bild zurück. Willie kam mir um Jahrzehnte gealtert vor. Seine früher hochmütigen Schultern fielen geschlagen nach vorn, um seine Augen bemerkte ich Fältchen, die Linie seines Kinns sah nicht so herausfordernd aus wie früher, und seine wenigen verbliebenen Haare waren schlohweiß. Wie die Zeit doch dahineilt. Ich hatte nie auf die äußeren Veränderungen an ihm geachtet und ihn nicht mit den Augen der Gegenwart, sondern mit denen meiner Erinnerung gesehen. Für mich war er der Mann geblieben, in den ich mich sechs Jahre zuvor auf den ersten Blick verliebt hatte, gutaussehend, athletisch, in einem dunklen Anzug, der im Rücken ein wenig spannte, als wollte sein Kreuz die Nähte auf die Probe stellen. Mir gefielen sein spontanes Lachen, sein selbstbewußtes Auftreten, seine schönen Hände. Er schaffte sich Luft, füllte jeden Raum. Man merkte ihm an, daß er gelebt und gelitten hatte, aber er schien unverwundbar. Und ich? Was hatte er in mir gesehen, als wir uns kennenlernten? Wie sehr hatte ich mich in diesen sechs Jahren und vor allem in den letzten Monaten verändert? Auch mich selbst betrachtete ich durch den gnädigen Filter der Gewohnheit, sah über das unausweichliche Welken des Körpers hinweg: die Brüste schlaffer, die Taille breiter, der Blick trauriger. Der Spiegel in diesem Aufzug enthüllte mir unser beider Müdigkeit, die nicht allein von meiner Reise und seiner Arbeit herrührte. Die Buddhisten sagen, das Leben sei ein Fluß, den wir auf einem Floß bis zum letzten Ziel befahren. Der Fluß besitzt seine eigene Strömung, seine Geschwindigkeit, seineKlippen, Strudel und anderen Hindernisse, die wir nicht ändern können, doch halten wir ein Ruder in Händen, um unsere Fahrt zu dirigieren. Von unserem Geschick hängt die Güte der Reise ab, die Richtung jedoch kann nicht geändert werden, denn der Fluß mündet stets in den Tod. Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als sich der Strömung zu überlassen, aber das war hier nicht der Fall. Ich atmete tief durch, richtete mich zu meiner vollen kleinen Größe auf und gab meinem Mann einen Klaps auf den Rücken.
»Laß dich nicht hängen, Willie. Wir müssen rudern.«
Er sah mich mit diesem verdutzten Gesichtsausdruck an, den er immer bekommt, wenn er glaubt, mein Englisch lasse mich im Stich.
Ein Nest für Sabrina
Ich zweifelte keinen Moment daran, daß Willie und ich uns Sabrinas annehmen würden: Wenn die Eltern ausfallen, sind die Großeltern gefragt, das ist ein Naturgesetz. Allerdings mußte ich bald erkennen, daß es so einfach nicht sein würde, wir nicht kurzerhand mit einem Korb in die Klinik gehen und die Kleine abholen konnten, wenn sie in ein, zwei Monaten entlassen würde. Formalitäten waren zu erledigen. Ein Richter hatte bereits entschieden, das Mädchen nicht in Jennifers Obhut zu geben, aber ihr Lebensgefährte war auch noch da. Ich hielt ihn nicht für den Vater, weil Sabrina nicht seine afrikanischen Züge hatte, auch wenn man mir versicherte, sie sei ein Mischling und werde von Woche zu Woche dunkler werden. Willie verlangte eine Blutprobe, die der Mann verweigerte, aber
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