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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Bewusstsein seiner selbst erlosch allmählich. Er fühlte sich so, wie er sich als kleiner Junge in seinem Zimmer gefühlt hatte, wenn er mit Spielzeug- LKW s herumfuhr, während er in einem großen Abenteuer verloren war.
    Erica kehrte zurück auf die Veranda und ließ das Tablett fallen; schreiend stürzte sie auf Harold zu und griff nach seiner Hand. Sein Körper war in sich zusammengesackt und schlaff. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und Sabber quoll aus seinem Mund. Sie sah ihm in die Augen, die Augen, die ihr im Lauf all der Jahrzehnte so vertraut geworden waren, und sie konnte keine Regung darin erkennen, obwohl er atmete. Sie machte eine Bewegung, um zum Telefon zu laufen, aber Harolds Hand umklammerte ihre. Sie setzte sich wieder hin, sah ihm ins Gesicht und weinte.
    Harold hatte das Bewusstsein verloren, aber er war noch am Leben. Bilder strömten ihm durch den Sinn, so wie es in den Sekunden vor dem Einschlafen geschieht. Sie stürzten in einer chaotischen Folge auf ihn ein. Mit seinem erloschenen Bewusstsein betrachtete er sie nicht so, wie er sie früher betrachtet hätte. Er sah sie in einer Weise an, die jenseits der Sprache lag. Wir würden sagen, dass er sie ganzheitlich betrachtete, dass er irgendwie alles gleichzeitig wahrnahm. Wir würden sagen, dass er sie impressionistisch und nicht analytisch erlebte. Er empfand ihre unmittelbare Gegenwart.
    Wenn ich diese Bilder hier aufschreiben will, muss ich das Satz für Satz hintereinander tun, aber Harold erlebte sie ganz anders. Es waren Bilder von den Wegen, auf denen er als Junge Fahrrad fuhr, und Bilder von den Bergen, die er an diesem Tag betrachtet hatte. Hier machte er Hausaufgaben mit seiner Mutter und forderte einen Angriffsspieler beim Football heraus. Da waren Reden, die er gehalten, Komplimente, die er bekommen, Sex, den er gehabt hatte; es gab Bücher, die er gelesen hatte, und Momente, in denen ein neuer Gedanke wie eine Welle über ihn hereingebrochen war.
    Für ein paar Augenblicke schien sein Bewusstsein wieder aufzuflackern. Er spürte, wie Erica da draußen weinte, und Mitleid umhüllte ihn. In seinem Innern verflochten sich die Wirbel in seinem Geist noch immer mit ihren. Es waren gemeinsame Wirbel, die von ihrem Bewusstsein in sein Unbewusstes hinüberwanderten. Kategorien lösten sich auf. Es war eine grenzenlose Zärtlichkeit in ihm. Während sich seine Fähigkeit, sich zu konzentrieren, auflöste, wuchs seine Fähigkeit, sich mit den Seelen anderer zu verbinden. Er hatte in diesem Moment eine ganz direkte Beziehung zu ihr. Es gab keine Analysen, keine geheimen Vorbehalte, keine Ambitionen, keine zukünftigen Wünsche oder vergangenen Schwierigkeiten. Es war nur noch »Du und Ich«, eine Einheit des Seins. Ein höherer Zustand der Erkenntnis. Ein Verschmelzen von Seelen. Jetzt wurden seine Fragen nach dem Sinn des Lebens beantwortet.
    Harold trat nun ganz und gar in das verborgene Reich ein und verlor dann für immer das Bewusstsein. In seinen letzten Augenblicken gab es keine Grenzen und keine Unterscheidungen mehr. Er hatte keine Macht mehr über sein Bewusstsein seiner selbst, aber zugleich war er befreit von dessen Fesseln. Er war mit Bewusstsein gesegnet gewesen, und dieses hatte ihm geholfen, sein Leben zielstrebig zu gestalten und sein Innenleben zu kultivieren, aber der Preis dieses Bewusstseins war das Wissen um seine Sterblichkeit gewesen. Jetzt erlosch dieses Wissen. Er nahm nichts mehr um sich herum wahr, er war in die Sphäre des Unsagbaren eingetreten.
    Es wäre interessant zu wissen, ob dies auch bedeutete, dass er ins Himmelreich, in das Reich Gottes eingetreten war. Aber das wurde Erica nicht übermittelt. Sein Herz schlug noch ein paar Minuten, seine Lungen füllten sich mit Luft und leerten sich wieder, und elektrochemische Impulse schossen noch immer durch sein Gehirn. Er führte einige Gesten und Zuckungen aus, die nach Ansicht der Ärzte unwillkürlich erfolgen, die in seinem Fall aber tiefer empfunden waren, als es jede andere Geste sein könnte. Eine davon war ein langer Händedruck, den Erica als Abschiedsgruß interpretierte.
    Was am Anfang gewesen war, war auch am Ende, das Gewirr von Empfindungen, Wahrnehmungen, Antrieben und Bedürfnissen, die wir, antiseptisch, das Unbewusste nennen. Dieses Gewirr war nicht der niedere Teil von Harold. Es war kein nebensächliches Merkmal, das man überwinden musste. Es war der Kern seiner Person – schwer zu erkennen, nicht zu verstehen, aber das Höchste.

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