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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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einzig angemessene Einstellung zu dieser Sphäre war Staunen, Dankbarkeit, Ehrfurcht und Demut. Einige Menschen glauben, sie könnten ihr eigenes Leben wie Diktatoren beherrschen. Manche halten das Selbst für ein schwerfälliges Holzschiff, das von einem Kapitän am Steuer gelenkt werden müsse. Harold dagegen war zu der Überzeugung gelangt, dass sein bewusstes Selbst – die Stimme in seinem Kopf – mehr Diener als Herr war. Es ging aus dem verborgenen Königreich hervor und diente dazu, die Seele tief im Innern zu nähren, zu zügeln, zu pflegen, zu verfeinern und zu vertiefen.
    Sein ganzes Leben lang hatte er sich gefragt, wie sein Leben ausgehen würde. Und jetzt war die Geschichte an ihr Ende gelangt. Er kannte sein Schicksal. Die Last der Zukunft war von ihm genommen. In ihm war kalte Todesangst, aber auch das Wissen, dass er außergewöhnlich viel Glück gehabt hatte.
    Er trat innerlich einen Schritt zurück und stellte sich einige Fragen nach dem Leben, das er gelebt hatte. Jede Frage erzeugte sofort ein ganz bestimmtes Gefühl in ihm, sodass er die Antwort nicht einmal in Worte fassen musste. Hatte er sich vertieft? Hatte er in einer Kultur der Instant-Kommunikation, in der es so leicht war, ein oberflächliches Leben zu führen, Zeit auf die wirklich wichtigen Dinge verwandt, auf seine größten Talente? Es fühlte sich gut an, diese Frage zu stellen, denn obgleich er nie ein Prophet oder ein Weiser geworden war, hatte er die wirklich wichtigen Bücher gelesen, sich mit wesentlichen Fragen auseinandergesetzt und so gut es ging versucht, ein reiches Innenleben zu kultivieren.
    Hatte er einen Beitrag zum Strom des Wissens geleistet, ein Vermächtnis für künftige Generationen hinterlassen? Bei dieser Frage hatte er kein so gutes Gefühl. Er hatte versucht, neue Dinge zu entdecken. Er hatte Aufsätze geschrieben und Vorträge gehalten. Aber er war mehr ein Beobachter als ein Akteur gewesen. Allzu viele Jahre hatte er sich treiben lassen, war von einem Interesse zum nächsten gesprungen. Dann wieder hatte er sich zurückgehalten, da er nicht bereit war, die Risiken einzugehen und die Schläge einzustecken, die mit dem Leben in der Arena verbunden waren. Er hatte nicht alles getan, was er hätte tun können, um denjenigen etwas mit auf den Weg zu geben, die weiterleben würden.
    Hatte er die Sphäre des Irdischen überschritten? Nein. Er war innerlich immer davon überzeugt gewesen, dass es da etwas jenseits des Lebens gebe, wie die Naturwissenschaft es verstand. Er hatte immer irgendwie an einen jenseits von Raum und Zeit existierenden Gott geglaubt. Aber er hatte sich nie einer bestimmten Religion angeschlossen. Er hatte ein weltliches Leben gelebt und bedauerlicherweise niemals die Gegenwart des Göttlichen gespürt.
    Hatte er geliebt? Ja. Die Konstante in seinem Erwachsenen-Leben war seine Bewunderung und Liebe für seine Frau gewesen. Er wusste, dass sie seine Liebe nicht mit der gleichen Stärke und Hingabe erwiderte. Er wusste, dass sie ihn in den Schatten gestellt hatte und dass ihrer beider Lebenswege von ihren Erfolgen bestimmt worden waren. Er wusste, dass sie manchmal das Interesse an ihm verloren und dass es in der Mitte ihrer Ehe einsame Jahre gegeben hatte. Aber das spielte für ihn jetzt keine Rolle. Letztlich war seine Kraft, mit ihr zusammenzubleiben und Opfer für sie zu bringen, ein weiteres der Geschenke seines Lebens gewesen. Und jetzt, in seinen letzten Jahren, in denen er so hilfsbedürftig und verletzlich war, gab sie ihm alles zurück, was er ihr gegeben hatte. Selbst wenn sie nur diesen einen Monat verheiratet gewesen wären, wo er sich gar nicht mehr bewegen konnte und sie sich so aufopferungsvoll um ihn kümmerte, wäre das Leben lebenswert gewesen. In dem Maße, wie die Stunden, die noch vor ihm lagen, weniger wurden, war seine Liebe für sie nur noch größer geworden.
    Genau in diesem Augenblick kam Erica auf die Veranda und fragte, ob sie ihm etwas zu essen bringen solle. »Oh, ist es schon Essenszeit?«, fragte er.
    Sie bejahte und sagte, im Kühlschrank gebe es kaltes Huhn, das sie ihm bringen könne, und dazu ein paar Kartoffelchips. Sie ging hinein, und Harold überließ sich wieder seinen Tagträumereien. Und als er verschiedene Ausschnitte aus seinem Leben noch einmal vor sich sah, lösten sich die Fragen, die das Leben an ihn gestellt hatte, plötzlich auf – und übrig blieben nur Empfindungen. Es war, wie wenn er in einem Konzert oder im Kino gesessen hätte. Sein

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