Das soziale Tier
unüberbrückbare Kluft.
Immanuel Kant hat geschrieben, dass wir »in der Tat aber selbst durch die angestrengteste Prüfung hinter die geheimsten Triebfedern [unserer Handlungen] niemals völlig kommen können«. 13 Und wenn dies schon für den Kauf eines Autos galt, um wie viel mehr galt es dann für die großen Ziele im Leben. Wenn Harold sich wirklich selbst gekannt hätte, dann hätte er vorhersagen können, wie er sich sein Leben in einem Jahr wünschen würde, aber er traute sich nicht zu, dies zu tun, nicht einmal auf Monatsfrist. Wenn Harold sich wirklich selbst gekannt hätte, hätte er gewisse Eigenschaften, die er besaß, beschreiben können, aber auch dies traute er sich nicht zu. Menschen überschätzen ihre Fähigkeiten und beurteilen sie falsch. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass zwischen der Selbsteinschätzung der eigenen Persönlichkeit und der Fremdeinschätzung durch Menschen im Umfeld nur ein geringer Zusammenhang besteht. 14
Harold saß da und versuchte, über sich nachzudenken, aber innerhalb von Sekunden sprang er zu Menschen, die er gekannt, beziehungsweise Erlebnissen, die er gehabt hatte. Manchmal dachte er an ein berufliches Projekt oder an eine Auseinandersetzung mit einem Kollegen. In diesen Dramen erlebte er sich als kohärente Person. Wenn er aber versuchte, sich selbst als abgetrennte, einzelne Person zu sehen, und sich fragte, wer er war und wofür er lebte, konnte er kein klares Bild von sich heraufbeschwören. Es war, als wäre er eine optische Täuschung, nur dann sichtbar, wenn man nicht direkt hinsah, und unsichtbar, sobald man seine Aufmerksamkeit darauf richtete.
Einige seiner Freunde erzählten vorgefertigte Geschichten über sich und ihr Leben. Einer war ein armer Junge, der es sozusagen vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht hatte. Ein anderer war ein Sünder, der in einem bestimmten Augenblick von Gott gerettet worden war. Ein Dritter hatte im Lauf seines Lebens seine Meinung über alles grundlegend geändert – er war im Wald der Irrtümer aufgebrochen und war zum Licht der Wahrheit gelangt.
In seinem Buch The Redemptive Self schreibt Dan McAdams, insbesondere die Amerikaner neigten dazu, ihr Leben als eine Geschichte von Sünde und Erlösung darzustellen. 15 Einstmals waren sie vom rechten Weg abgekommen und erlagen einer Verlockung, aber dann lernten sie einen Mentor kennen oder fanden eine Frau oder begannen, bei einer gemeinnützigen Stiftung zu arbeiten, oder taten irgendetwas anderes und wurden erlöst. Ihre Verfehlung wurde vergeben, und sie kehrten zurück auf den rechten Pfad. Von diesem Moment an hatte ihr Leben einen Sinn.
Als Harold sein eigenes Leben Revue passieren ließ, hatte er nicht das Gefühl, dass es sich in eine dieser narrativen Schablonen pressen ließ. Und je länger dieser Prozess der Selbstanalyse andauerte, umso trauriger wurde er. Ihn quälte das Gefühl, dass es einen letzten Termin gab, den er nicht einhalten würde. Einige Psychologen drängen ihre Patienten dazu, sich in einen Sessel zu setzen und in sich selbst hineinzusehen. Aber zahlreiche empirische Befunde deuten darauf hin, dass diese grüblerische Selbstbetrachtung oftmals schädlich ist. Depressive Menschen greifen gezielt die negativen Ereignisse und Gefühle in ihrem Leben heraus und stärken die entsprechenden neuronalen Netzwerke dadurch, dass sie ihre Aufmerksamkeit darauf richten. Die Folge ist, dass diese Netzwerke dominant werden. In seinem Buch Strangers to Ourselves fasste Timothy Wilson die Ergebnisse mehrerer Experimente zusammen, die zeigten, dass depressiv verstimmte Menschen durch das Grübeln noch niedergeschlagener wurden, während Ablenkungen ihre Stimmung hoben. 16 Grübler verfielen in pessimistische, negative Denkmuster, schnitten bei Aufgaben, die die Problemlösungskompetenz abprüfen, schlechter ab und sahen ihre Zukunft viel düsterer.
Manchmal erschien es Harold, als wäre diese ganze Selbsterforschung vergeblich. »Wie kläglich ist meine Selbsterkenntnis, verglichen etwa mit meiner Kenntnis meines Zimmers«, notierte Franz Kafka einst. »Es gibt keine Beobachtung der innern Welt, so wie es eine der äußern gibt.« 17
Der letzte Tag
An einen Nachmittag im Spätsommer saß Harold auf der Veranda des Hauses in Aspen und betrachtete den Fluss. Er konnte Erica in ihrem Büro im Obergeschoss hören, wie sie auf der Tastatur herumtippte. Er hatte ein zerkratztes Kästchen auf seinem Schoß, in dem er einige Papiere und Fotos
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