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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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durchblätterte.
    Er stieß auf ein sehr altes Foto von sich. Auf dem Foto war er ungefähr sechs Jahre alt. Er trug eine Uniformjacke im Marine-Stil, stand oben auf einer Spielplatz-Rutsche, im Begriff, herunterzurutschen, und starrte konzentriert auf die Bahn unter ihm.
    »Was habe ich mit diesem Jungen gemein?«, fragte sich Harold. Nichts, außer dass er das selbst war. Das Wissen, die Umstände, die Erfahrung und das Aussehen waren ganz und gar verschieden, aber in diesem Jungen war etwas lebendig, was auch jetzt noch in ihm lebendig war. Es gab einen Wesenskern, der sich mit dem Alter geändert hatte, ohne jedoch zu etwas grundlegend anderem zu werden, und diesen Wesenskern nannte Harold seine Seele.
    Er vermutete, dass sich dieser Wesenskern in Neuronen und Synapsen manifestierte. Er war mit bestimmten neuronalen Verbindungen auf die Welt gekommen, und da das Gehirn das Archiv der Gefühle eines Lebens war, hatten sich dort nach und nach neue neuronale Verbindungen gebildet. Und dennoch konnte er nur darüber staunen. Die Verbindungen waren durch Emotionen entstanden. Das Gehirn war ein Fleischklumpen, aber aus den Milliarden von elektrischen Impulsen gingen Geist und Seele hervor. Es müsse eine höchste schöpferische Kraft geben, dachte er, die Liebe in Synapsen verwandeln kann und die dann eine Population von Synapsen nimmt und diese in Liebe verwandelt. Da musste Gott seine Hand im Spiel haben.
    Harold betrachtete die Hände des kleinen Jungen, die das Geländer der Rutsche umklammerten, und den Ausdruck in seinem Gesicht. Harold musste sich nicht ausmalen, was der Junge empfand, weil er es irgendwo in sich drin noch immer direkt fühlen konnte. Er musste die Art und Weise, auf die der Junge die Welt sah, nicht rekonstruieren, weil er, auf einer gewissen Ebene, die Welt noch immer so sah. Dieser kleine Junge hatte Höhenangst. Ihm wurde beim Anblick von Blut schwindelig. Dieser kleine Junge war verliebt, aber fühlte sich oft einsam. Er besaß bereits ein verborgenes Königreich, ein Repertoire von Charakterzügen und Reaktionsmustern, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens erweitern, reifen, sich behaupten, zurückweichen und sich zurückbilden sollten. Dieses verborgene Königreich war er, damals wie heute.
    Ein Teil dieses Königreichs entstand aus den Beziehungen zu seinen Eltern. Sie waren nicht die tiefsinnigsten Menschen. Sie verbrachten zu viel Zeit in der Geschäftswelt und ließen sich vom schönen Schein und von Eitelkeiten blenden. Seinen tiefsten Bedürfnissen waren sie nie gerecht geworden, aber sie waren gute Menschen gewesen, die ihn liebten. Vermutlich war einer der beiden mit ihm auf diesem Spielplatz gewesen und hatte hinter der Kamera gestanden, um diese Aufnahme zu machen. Dann hatte er das Foto irgendwo abgelegt, sodass Harold es sich jetzt ansehen konnte. Das Bild war mit einem bestimmten Gefühl gemacht worden, und es war mit einem bestimmten Gefühl abgelegt worden, und Harold betrachtete es jetzt auch mit einem bestimmten Gefühl, während er sich seine Mutter oder seinen Vater hinter dem Fotoapparat vorstellte, wie sie oder er auf den Auslöser drückte. Die Schleifen hallten über Jahrzehnte nach, von Generation zu Generation.
    Die Seele ging aus diesen Schleifen der Zuneigung hervor. Diese Schleifen waren flüchtig und zerbrechlich, aber auch dauerhaft und stabil. Noch heute gab es kleine Schläferzellen in seinem Gehirn – Zuneigungen und Ängste, die vor langer Zeit eingepflanzt worden waren, jahrzehntelang sozusagen abgeschaltet blieben und dann plötzlich unter den richtigen Umständen wieder aktiviert wurden. Die Art, wie seine Eltern auf seine kleinen Erfolge reagiert hatten – dieses wunderbare Gefühl hatte ihn sein ganzes Leben über motiviert. Die Unsicherheit seiner aus der Arbeiterschicht stammenden Großeltern, die sich in der Mittelschicht nie richtig akzeptiert gefühlt hatten, so, als nähmen sie dort nur eine ungesicherte Randposition ein – diese Unsicherheit klang sein ganzes Leben in ihm nach. Die Art, wie seine Schulfreunde den Arm um seine Schulter gelegt und sich in der Cafeteria an ihn gelehnt hatten – dieses Gefühl der Kameradschaft gab ihm bis zu seinem Todestag Kraft. Die soziale Eingebundenheit im frühen Lebensalter erlaubt zuverlässige Vorhersagen über die Langlebigkeit und den Gesundheitszustand am Lebensende.
    Harold versuchte vergeblich, dem Gewirr der Verbindungen, der Sphäre des Unbewussten auf den Grund zu kommen. Die

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