Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Schlüsse ziehen ließe.«
Meine Neugier war mittlerweile geweckt, und ich stellte mir alle möglichen Szenarien vor. War jemand ermordet worden? Hatte er Selbstmord begangen? War ein untreuer Ehemann von einem Privatdetektiv in den Armen einer anderen Frau erwischt worden? Aber vielleicht war es auch etwas weit weniger Dramatisches: eine nicht richtig ausgedrückte Zigarette, die im Papierkorb Feuer gefangen hatte. Jemand, der nachts ohne zu bezahlen verschwunden war. Verstrickungen. Abgründe.
»Ich würde ja gerne meine eigenen Schlüsse ziehen«, sagte ich, »wenn ich nur …«
»Er war natürlich nicht das erste Mal hier«, unterbrach mich der Junge, und die Aussicht, mir nun alles bis ins kleinste, ekligste Detail zu erzählen, ließ seine Stimme erregt anschwellen. »Mr Charters, so heißt der Kerl. Edward Charters. Ein sehr ehrenwerter Mann, dachte ich immer. Arbeitet bei einer Bank in London, aber seine Mutter lebt draußen Richtung Ipswich, und er besucht sie gelegentlich und bleibt dann auf dem Weg zurück in die Stadt ein, zwei Nächte in Norwich. Immer bei uns. Wir hatten nie Probleme mit ihm, Sir. Ein Gentleman. Ruhig, zurückhaltend. Gut gekleidet. Er wollte immer die Nummer vier, weil er wusste, wie gut das Zimmer ist, und ich habe ihm seinen Wunsch gerne erfüllt. Ich verteile die Zimmer, Mr Sadler, nicht Ma. Sie bringt die Nummern durcheinander und damit …«
»Und dieser Mr Charters?«, fragte ich. »Hat er sich geweigert, das Zimmer rechtzeitig zu räumen?«
»Nein, Sir«, sagte der Junge und schüttelte den Kopf.
»Hat es einen Unfall gegeben? Ist er krank geworden?«
»Nein, nichts dergleichen, Sir. Wir haben ihm den Schlüssel gegeben, verstehen Sie. Für den Fall, dass es spät würde. Bei unseren bevorzugten Gästen tun wir das. Ich erlaube es. Natürlich ist es absolut in Ordnung, auch Ihnen den Schlüssel zu geben, ich meine, wo Sie doch Soldat waren. Ich wollte selbst an die Front, Sir, nur haben sie mich nicht genommen, weil ich …«
»Bitte«, unterbrach ich ihn. »Wenn wir vielleicht einfach …«
»Richtig, entschuldigen Sie, Sir. Die Sache ist nur etwas unangenehm. Aber wir sind beide Männer von Welt, habe ich recht? Kann ich offen sprechen, Mr Sadler?«
Ich zuckte mit den Schultern. War ich ein Mann von Welt? Ich wusste es nicht. Ich war mir nicht einmal sicher, was der Ausdruck eigentlich bedeutete.
»Die Sache ist die, dass es am frühen Morgen zu einer gewissen Unruhe kam«, sagte David Cantwell, senkte die Stimme und beugte sich verschwörerisch in meine Richtung. »Das ganze verdammte Haus ist aus dem Schlaf gerissen worden. Entschuldigen Sie, Sir.« Er schüttelte den Kopf. »Wie sich herausstellte, war Mr Charters ganz und gar nicht der ruhige, korrekte Gentleman, für den wir ihn gehalten haben. Er ist gestern Abend ausgegangen, aber nicht allein zurückgekommen. Und was das betrifft, haben wir hier natürlich feste Regeln.«
Ich musste lächeln, ich konnte nicht anders. Solche Nichtigkeiten! Und das nach den vergangenen vier Jahren? »Ist das alles?«, fragte ich und stellte mir einen einsamen Mann vor, der sich um seine Mutter in Ipswich kümmerte, abends, vielleicht unerwartet, etwas weibliche Gesellschaft gefunden und sich erlaubt hatte, seinem Begehren nachzugeben. Das war nun sicher kaum die Aufregung wert.
»Nicht ganz, Sir«, sagte David. »Denn Mr Charters’ … nennen wir es Gesellschaft , wollte nichts als sein Geld. Hat ihn ausgeraubt, und als er sich zur Wehr setzte, hatte er auch schon ein Messer an der Kehle, und dann brach die Hölle los. Ma ist aufgewacht, ich bin aufgewacht, und die Gäste kamen in ihren Nachthemden auf den Flur gelaufen. Wir klopften an seine Tür, und als wir sie öffneten …« Er schien nicht sicher zu sein, ob er weitererzählen sollte. »Wir haben natürlich die Polizei gerufen«, fügte er hinzu. »Sie haben die beiden mitgenommen. Aber Ma fühlt sich sterbenselend wegen der Sache. Sie meint, damit sei alles ruiniert, und denkt sogar ans Verkaufen, wenn Sie das glauben können. Will zurück zu ihren Leuten in den Südwesten ziehen.«
»Ich bin sicher, dass auch Mr Charters ziemlich unglücklich mit der Situation ist«, sagte ich und empfand eine Welle von Mitgefühl für den Überfallenen. »Der arme Mann. Ich kann ja verstehen, dass die junge Dame verhaftet wurde, wenn sie gewalttätig geworden ist, aber warum um alles in der Welt denn auch er? Das ist doch keine Frage der Moral?«
»Doch, das ist es, Sir«, sagte
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