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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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leise.
    »Ja, nun«, sagte sie, ließ den Blick einen Moment lang wandern, und ihr Ausdruck verhärtete sich.
    So saßen wir eine Weile da, und schließlich sah sie mich wieder an. »Trotzdem, Sie sehen gut aus.«
    »Tue ich das?«
    »Nein, nicht wirklich. Sie sehen alt aus. Und müde. Ich bin selbst alt und müde, ich meine das nicht unfreundlich.«
    »Ja, ich bin alt und müde«, gab ich zu. »Es war eine lange Strecke.«
    »Gut für Sie«, sagte sie bitter. »Aber waren Sie glücklich?«
    Ich dachte darüber nach. Das war eine der schwierigeren Fragen des Lebens, hatte ich das Gefühl. »Unglücklich war ich nicht«, sagte ich. »Obwohl ich nicht sicher bin, ob das aufs Gleiche hinausläuft. Ich habe meine Arbeit sehr genossen. Sie hat mir große Befriedigung verschafft. Aber natürlich habe ich, wie Ihr Sohn, von Zeit zu Zeit zu kämpfen gehabt.«
    »Womit?«
    »Darf ich seinen Namen sagen?«
    »Nein«, fauchte sie und beugte sich vor. »Nein, das dürfen Sie nicht.«
    Ich nickte und lehnte mich zurück. »Vielleicht hat es eine Bedeutung für Sie, vielleicht auch nicht«, sagte ich, »aber ich habe dreiundsechzig Jahre mit der Schande dessen gelebt, was ich getan habe. Es ist nicht ein Tag verstrichen, ohne dass ich daran gedacht hätte.«
    »Es überrascht mich, dass Sie nie darüber geschrieben haben, wenn es so wichtig für Sie war.«
    »Doch, das habe ich.« Ein erschreckter Ausdruck überzog ihr Gesicht, und ich schüttelte schnell den Kopf. »Um es genauer zu sagen«, erklärte ich ihr, »habe ich darüber geschrieben, es aber nie veröffentlicht. Ich dachte, das lasse ich zurück. Für die Zeit nach mir.«
    Sie beugte sich vor, offenbar mit einem Mal interessiert. »Und was haben Sie geschrieben, Tristan?«
    »Die ganze Geschichte«, antwortete ich. »Von der Zeit in Aldershot. Was ich für ihn empfunden habe und was dort alles geschehen ist. Von unserer Zeit in Frankreich. Ein bisschen von meiner Zeit davor, was ich als Kind erlebt habe. Und dann die Probleme – von den Entscheidungen Ihres Bruders. Und davon, was ich ihm am Ende angetan habe.«
    »Dass sie ihn ermordet haben, meinen Sie?«
    »Ja, das.«
    »Weil Sie ihn nicht bekommen haben.«
    Ich schluckte und sah zu Boden. Nickte. Ich konnte ihr in diesem Moment nicht in die Augen sehen, genauso wenig wie ihren Eltern vor all den Jahren.
    »Von sonst noch etwas?«, fragte sie. »Sagen Sie’s mir. Ich habe ein Recht, es zu erfahren.«
    »Ich habe auch über unseren Tag damals geschrieben. Wie ich versucht habe, Ihnen die Dinge zu erklären. Und gescheitert bin.«
    »Sie haben über mich geschrieben?«
    »Ja.«
    »Und warum haben Sie es dann nicht veröffentlicht? Alle loben Sie so sehr. Warum haben Sie ihnen nicht auch dieses Buch gegeben?«
    Ich überlegte und tat so, als versuchte ich, die Ursache dafür zu ergründen, obwohl ich sie doch nur zu gut kannte. »Ich denke, die Schande wäre zu groß für mich gewesen«, sagte ich. »Dass alle erfahren hätten, was ich getan habe. Ich hätte nicht damit leben können, wie mich die Leute dann angesehen hätten. Wenn ich tot bin, macht es nichts mehr. Dann können es alle wissen.«
    »Sie sind wirklich ein Feigling, Tristan, oder?«, fragte sie. »Bis zum Ende. Ein schrecklicher Feigling.«
    Ich sah sie an. Es gab nicht viel, womit sie mir wehtun konnte. Aber sie hatte etwas gefunden. Etwas Wahres.
    »Ja«, sagte ich. »Ja, so ist es wohl.«
    Sie seufzte und wandte den Blick ab. Ihrem Ausdruck nach würde sie schreien müssen, wenn sie nicht vorsichtig war. »Ich weiß nicht, warum ich hergekommen bin«, sagte sie. »Aber es ist sowieso spät. Ich muss gehen. Leben Sie wohl, Tristan.« Sie stand auf. »Wir werden uns nicht wiedersehen.«
    »Nein«, sagte ich.
    Und damit war sie verschwunden.
    Sie hat natürlich recht. Ich bin ein Feigling. Ich hätte dieses Manuskript schon vor Jahren veröffentlichen sollen. Vielleicht habe ich nur darauf gewartet, dass die Geschichte eine Art Abschluss findet, überzeugt davon, dass er früher oder später schon kommen würde. Heute Abend ist es endlich so weit.
    Kurz nachdem sie gegangen war, bin ich hinauf in mein Zimmer gegangen. Als ich die rechte Hand vor mich hinhielt, stellte ich fest, dass mein spasmodischer Finger völlig ruhig war. Der Finger, der den Abzug gedrückt und die Kugel ins Herz meines Geliebten geschickt hatte, war endlich beruhigt. Ich holte das Manuskript aus der Tasche. Ich nehme es mit, wohin auch immer ich reise, wissen Sie. Ich möchte es

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