Das Spiel
glaube, du brauchst jemanden, der auf dich aufpasst, Julia Frost.«
*
Julia dachte nicht an Angela Finder oder an ihren Bruder, als sie hinter der Brücke in den Wald abbog. Sie dachte nicht ans College oder die anderen aus der Clique. Selbst an Chris, den sie einfach abgeschüttelt hatte, dachte sie nicht mehr.
Julia dachte nur noch an sich selbst.
Sie war in den Wald gestürmt, dorthin, wo kein Pfad oder Weg mehr durch das Unterholz führte. Sie ignorierte die Abbiegung zum Bootshaus und rannte einfach bergauf, nicht in Serpentinen, um sich zu schonen, sondern geradeaus, höher, immer höher, ohne Rücksicht auf ihre Jeans oder Schuhe zu nehmen, die nach wenigen Metern ganz zerkratzt und dreckig waren.
Aber je höher sie rannte und je mehr sie außer Atem geriet, desto besser ging es ihr. Es war, als ließe sie das Tal hinter sich und damit all ihre Sorgen, ihre Ängste, ihre Albträume.
Die Fichten standen dicht an dicht, aber diesmal glaubte Julia nicht, dass die Bäume sich gegen sie verschworen hatten. Ganz im Gegenteil, sie fühlte sich beschützt und aufgehoben zwischen ihnen.
Die Stimmen der anderen tief unter ihr erstarben nach und nach, aber sie blieb nicht stehen. In einem Winkel ihres Gehirns wunderte sie sich, woher sie überhaupt die Kraft nahm, in diesem Tempo den Berg hinaufzurennen. Aber im Grunde genommen genoss sie die Bewegung und fühlte, wie ihr Kopf immer leerer wurde.
Sie war fast enttäuscht, als die mörderische Steigung nachließ und der Boden urplötzlich flach wurde.
Doch dann hielt sie verblüfft inne. Vor ihr lag eine kleine Lichtung, die nicht mehr nach Wildnis aussah. Im Gegenteil – der Platz war ganz offensichtlich künstlich geschaffen worden – irgendwann hatte man hier eine Gruppe von Bäumen gerodet, sodass eine Freifläche entstanden war. Büsche und Sträucher waren sorgfältig zurückgeschnitten. Und noch etwas war merkwürdig. Soweit Julia sehen konnte, führte kein Weg an diesen Ort. Er schien so, als ob er einfach mitten in den Wald gebeamt worden wäre.
Plötzlich fühlte Julia etwas Warmes. Unwillkürlich sah sie hoch. Die Dunstglocke war aufgebrochen und ein paar Sonnenstrahlen drangen durch das freie Stück Himmel über ihrem Kopf. Laserstrahlen. Unwirklich und irgendwie magisch.
Stairway to heaven.
Dad hatte dieses Lied immer gehört.
Julia blieb direkt unter den Sonnenstrahlen stehen, hob das Gesicht in den Himmel und schloss die Augen.
Die Stille war überwältigend. Es fehlte jegliches Geräusch und das war nicht normal, oder? Eine vollkommene Stille existierte nicht. Auf keinem Ort der Welt. Und wenn doch, es würde einen verrückt machen, oder? Man könnte es nicht ertragen.
Sie stand einige Minuten so da, vollkommen vertieft, und als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie direkt auf einen großen Steinblock am Ende der Lichtung, als sei er vom Himmel gefallen.
Sie machte einen Schritt nach vorne. Kein Laub raschelte unter ihren Füßen. Das dichte grüne Moos verschluckte jedes Geräusch. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, erklang eine Stimme – direkt hinter ihr.
»Was soll das denn eigentlich werden? Betest du hier die Sonne an?«
*
»Bist du wahnsinnig geworden!« Julia fuhr herum. Katie stand direkt hinter ihr. »Gott, hast du mich erschreckt!«
»War nicht meine Absicht.«
»Was machst du hier?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen. Ich bin dir gefolgt.«
Für eine Sekunde setzte Julias Atmung aus.
Katie legte den Kopf schräg. »Komm schon, Julia – tu nicht so schockiert. Ich bin neugierig.«
Julia starrte sie an. »Du – neugierig?«
»Auf dich. Nur weil ich das nicht an die große Glocke hänge wie Debbie, bedeutet das noch lange nicht, dass ich mich nicht auch für die Menschen interessiere.«
Julia kniff die Augen zusammen. »Was soll denn das heißen?«
Der Anflug eines Lächelns erschien auf Katies Gesicht, wodurch es etwas Sphinxhaftes bekam. »Ach, nichts«, sagte sie leichthin.
Tolle Antwort!
Julia hätte vor Frust fast geschrien. Hatte keiner von diesen Typen sein eigenes Leben? Warum interessierten sie sich alle für sie? Erst Chris, der ihr ein Rätsel nach dem anderen aufgab, und jetzt Katie! Ausgerechnet die Einzige, die bis jetzt nicht genervt hatte!
Katie sah sich um. »Wo sind wir hier eigentlich?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Julia mürrisch. Sie überlegte, ob sie ihre Mitbewohnerin einfach stehen lassen sollte. Das Hochgefühl von eben war völlig verflogen.
»Seltsamer Ort, oder?« Katie
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