Das Spiel
machte einige Schritte nach vorne. »So eine gerodete Lichtung mitten im Nirgendwo. Und der Stein dort, der sieht nicht so aus, als ob er hier zufällig stünde. Fast wie ein Grabstein.« Katie starrte auf den Felsen, der dicht mit Efeu bewachsen war. Im nächsten Moment ging sie darauf zu, ihre Hände griffen nach den hellgrünen Blättern und mit einem Ruck riss sie sie zu Boden.
Hinter dem Efeu kam eine Steinplatte zum Vorschein, die in der Mitte einen Hohlraum zeigte und Julia an einen Schrein erinnerte. Wie sie manchmal in Kirchen, Friedhöfen, an Wegkreuzungen oder – wie hier – im Wald errichtet wurden. Es fehlte nur die Madonna. Dafür gab es eine Schieferplatte, in die so etwas wie Namen geritzt waren.
»Wow«, murmelte Katie. »Es ist tatsächlich ein Grabstein. Mitten im Wald!«
Julia trat näher. Ihr Blick heftete sich auf die Inschrift. Dahinter eine Jahreszahl. Nein, ein Datum! 10.09.1974.
Julia ging die Liste der Namen durch, doch die Schrift war im Laufe der Jahre verwittert. Es waren nur Bruchstücke und einzelne Buchstaben zu entziffern.
Am Ende der Liste stoppte sie. Da stand ein vollständiger Name. Der Vorname Mark.
Und dann?
Keine Chance!
Der Stein war schmutzig und über dreißig Jahre lang Schnee, Regen und Stürmen ausgesetzt gewesen. Die Schieferplatte hatte bereits Grünspan angesetzt.
»Was das wohl für Namen sind?«, hörte sie sich fragen.
»Vielleicht von den Studenten, die damals verschwunden sind.«
Julia starrte Katie an. »Welche Studenten?«
»Du kennst die Geschichte nicht?«
Julia schüttelte den Kopf.
»Debbie hat es irgendwann erzählt. Kann sein, dass du und Robert noch nicht hier gewesen seid. Es passierte in den Siebzigerjahren. Acht Studenten des Colleges waren zu einer Bergtour auf den Ghost unterwegs und sind seitdem spurlos verschwunden. Schrecklich, oder?«
»Was ist passiert?«
»Das wurde nie geklärt. Irgendwann hat man aufgehört, nach ihnen zu suchen. Und wenig später wurde das College geschlossen. Wusstest du, dass es damals Solomon College hieß?«
Julia schüttelte den Kopf. »Bis vor Kurzem wusste ich nicht einmal vom Grace College.«
»Na ja, jedenfalls haben sie es damals nicht geschafft, das Ganze geheim zu halten, obwohl sie sich alle Mühe gegeben haben. In allen Zeitungen erschienen ziemlich große Berichte und dann natürlich die Todesanzeigen.«
»Aber was haben die Studenten auf dem Ghost gemacht?«
Katie schaute sie verwundert an. »Sie wollten hoch, was sonst?«, sagte sie. »Beim Bergsteigen ist der Weg das Ziel, verstehst du? Sie sind einfach losgegangen, und, mein Gott, ich bewundere sie dafür.«
Julia spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Plötzlich fühlte sie, wie ihr Kopf anfing zu schmerzen. Der Efeu wand sich um ihre Stirn wie eine Art Kranz und wurde immer enger. Bis sie das Gefühl hatte, ihr Kopf würde zerspringen.
Und dann war es wieder da. Dieses Krächzen, das sie vorhin schon einmal gehört hatte. Direkt über ihr. Sie öffnete die Augen. Dort oben kreiste er, inmitten der Laserstrahlen der Sonne. Ein Raubvogel. Sie schloss die Augen. Und als sie sie wieder öffnete, stand Julia allein auf der Lichtung.
Katie war verschwunden.
Als hätte sie sich in Luft aufgelöst – oder sei nie hier gewesen.
Kapitel 19
Ein lauter Ruf hallte durch das Tal, wiederholte sich wieder und wieder und wurde unaufhörlich von den umliegenden Felswänden zurückgeworfen.
Julia war noch immer allein und der Wald schien nicht zu enden.
Sie sah rot. Überall. Ein hässliches Vampirrot, das durch die Baumstämme leuchtete. Vergangenheit und Gegenwart. Wo bist du, Julia, und was geschieht mit dir? Eine Hand mit rot lackierten Fingernägeln, die hinter der Fichte dort vorne auftauchte und ihr zuwinkte. Ein kaltes, abscheuliches Vampirrot.
Wo war sie hergekommen?
Wo konnte sie hin?
Äste, die sie aufhielten. Der Berg. Ein Abhang.
Sie stockte kurz. Rannte weiter. Einfach nur weg. War es eine Stimme? Rief sie jemand?
Und dann roter Nebel, der vom Boden aufstieg. Eine Hand, die zwischen den Bäumen auftauchte. Hellrote Vampirnägel, die sich in den Boden gruben und ein schabendes Geräusch verursachten, dass ihr der Atem stockte.
Nur weg. Bloß weg hier.
Aber der Wald war ein Labyrinth. Nein – die Bäume lebten. Sie stellten sich ihr in den Weg. Immer wenn sie dachte, sie hätte den Ausgang gefunden, standen sie plötzlich vor ihr. Ja, sie schienen vor ihren Augen zu wachsen.
Dann wieder Stimmen. Oder waren
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