Das Spiel
Wahrheit.
Gott, sie hatte diese Begriffe, dieses ganze Gerede so satt.
Professor Brandon trat dicht an Rose’ Pult, stand nun direkt vor ihr, und seine tiefe, wohlklingende Stimme änderte sich nicht, als er fragte: »Was genau wollen Sie damit sagen?«
»Haben wir nicht das Recht zu erfahren, was mit Angela passiert ist?«
Brandon zog eine Augenbraue in die Höhe. »Möchten Sie darüber reden?«
»Wir wollen nicht darüber reden, wir wollen Antworten!« Bevor der Professor noch etwas erwidern konnte, fuhr Rose bereits fort. »War es ein Unfall?«
Brandon wandte sich um und ging nach vorn. »Die Polizei geht bis jetzt davon aus.«
»Und das ist alles?« Rose ließ nicht locker, und plötzlich kam es Julia so vor, als stecke in der sanftmütigen schönen Rose ein harter Kern, den sie bis jetzt noch nicht kannte. »Haben Sie sich nicht mal gefragt, wie Angela an die Stelle, wo wir sie gefunden haben, mit ihrem Rollstuhl hingekommen sein soll?«
»Nun, das wird noch zu klären sein«, sagte Brandon gelassen. »Dafür gibt es eine Untersuchung, Spurensicherung. Fakten, aus denen Schlüsse gezogen werden können.«
»Weshalb werde ich das Gefühl nicht los, Sie wollen uns die Wahrheit nicht sagen?«
»Ich weiß die Wahrheit nicht«, erwiderte Mr Brandon und Julia hörte leichte Ungeduld in seiner Stimme. »Solange die Untersuchungen des Unfallortes und vor allem die Obduktion noch nicht abgeschlossen sind, kennen wir die Wahrheit nicht. Keiner von uns.«
Nun hob Robert die Hand.
»Mr Frost? Mit welcher Theorie wollen Sie uns heute beglücken?« Brandons Stimme enthielt einen deutlich ironischen Unterton.
Wie immer, wenn Robert etwas zu sagen hatte, erhob er sich: »Sie versuchen uns gerade zu vermitteln, die Wahrheit beruhe einzig und alleine auf Fakten und Tatsachen. Aber ist die Wahrheit nicht mehr als das bloße Beweismaterial der Spurensicherung?«
»Glaubst du an einen Unfall?«, hörte Julia Chris neben sich flüstern. Wie zufällig lag seine rechte Hand neben ihrer linken.
Julia wusste nicht, was sie glauben sollte. Ihr schien, als reihe sich ein Unglück an das andere und die Kette würde nie ein Ende finden, außer sie schaffte es, sie zu durchbrechen.
»Wenn Robert sich nicht so in die ganze Sache gesteigert hätte, ginge mir das Ganze …«
»… am Arsch vorbei?« Chris lachte leise auf. »Ahnte ich es doch, dass du tief in deinem Inneren bist wie ich!«
»Was gibt es da zu lachen, Mr Bishop?«
Professor Brandon sah zu ihnen nach oben.
»Verbieten die Hausregeln den Studenten jetzt auch noch das Lachen? Na ja, wundert mich nicht bei den ganzen Vorschriften und Gesetzen hier oben.«
»Meinen Sie etwa, Angelas Tod ist der Beweis, den Robert in der letzten Stunde gefordert hat?« Das kam von einer auffallend dünnen Studentin, die Julia nicht kannte. »Dieses Wenn-dann-Ding? Dass Regeln nach den Gesetzen der Logik funktionieren sollen?«
Ein Krächzen ertönte von draußen. Julias Blick schweifte zum Fenster. Ein großer Vogel zog mit weit ausgebreiteten Schwingen über dem Lake Mirror seine Kreise. Es war das dritte Mal, dass Julia ihn zu Gesicht bekam, und mittlerweile fragte sie sich, ob es immer derselbe war.
In diesem Moment ertönte ein Schuss. Der laute Knall hallte zwischen den Felswänden nach. Der Bussard stürzte nach unten und innerhalb weniger Sekunden hatte der Lake Mirror den Vogel verschluckt.
»Diese verdammten Security-Typen bringe ich noch einmal um«, murmelte Professor Brandon wütend.
Kapitel 21
Beim Mittagessen in der Mensa verkündete Alex, dass der Bus nach Fields aufgrund der Ereignisse und der Ermittlungen der State Police ausfallen würde.
Zunächst fühlte Julia, wie diese Nachricht sie schockte. Schließlich hatte sie die ganze Woche darauf gewartet, das Tal verlassen zu können. Noch immer hatte sie keine Nachricht geschickt und noch immer hing über ihr die Drohung, dass jemand über sie und Robert Bescheid wusste. Und dennoch schien dieser Punkt angesichts der Ereignisse in den Hintergrund gerückt zu sein. Dazu kam Chris, an den sie jetzt ständig denken musste. Als er sie im Wald festgehalten hatte, hatte sie sich verdammt wohlgefühlt, beschützt, nicht mehr alleine und das Allerwichtigste, offenbar nahm er ihr die Nummer mit Everybody’s Darling nicht ab. Bei ihm musste sie sich nicht länger verstellen. Und darin erinnerte er sie an Kristian.
Den ganzen Sonntag über war Hubschrauberlärm zu hören. Die blinkenden Lichter der Polizeiwagen
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