Das Spiel
spiegelten sich im See, sodass das Wasser immer wieder von orangefarbenen Kreisen durchzogen wurde. Der Sicherheitsdienst belagerte die Ein- und Ausgänge des Colleges. Und immer wieder die Information: »Das Westufer ist bis auf Weiteres abgeriegelt. Bitte behindern Sie die Polizei nicht bei ihrer Arbeit!«
Es war klar, dass sich dadurch die Anspannung und Nervosität im College steigerte. Die Studenten saßen in der Eingangshalle oder lungerten in den Gängen herum, um das Geschehene zu diskutieren. Eine große Menge von Schaulustigen stand auf dem Balkon vor der Mensa und beobachtete die State Police bei ihrer Arbeit. Benjamin filmte, auch wenn Katie ihn warnte, dass die State Police schlimmer als das amerikanische FBI sei. »Wenn die herausfinden, dass du sie filmst, dann nehmen sie dir die Kamera weg.«
Den Großteil des Tages verbrachte Julia mit Rose und David, doch als es auf den Abend zuging, hatte sie genug von Gerüchten und Vermutungen und beschloss, auf das Essen zu verzichten und sich lieber in ihr Zimmer zurückzuziehen. Die Stöpsel des Kopfhörers in den Ohren, ging sie zuerst ins Badezimmer. Für vier Personen war es ziemlich klein und dazu ungemütlich. Im Grunde wollte man den Raum so schnell wie möglich verlassen. Die dunkelbraunen Kacheln mussten noch aus den Siebzigern stammen und bei diesem Gedanken fiel ihr wieder der Gedenkstein im Wald ein.
Mark.
Der Name ging ihr nicht aus dem Kopf.
Damit er aus ihrem Kopf verschwand, drehte sie die Lautstärke des iPods auf Maximum. Wie immer war die Musik ein Trost – obwohl Trost vielleicht nicht das richtige Wort war. Vielmehr verhinderte sie, dass sie sich einsam fühlte.
Dead is the new alive
Despair’s the new survival.
Emilie Autumns Texte beschrieben ihren Seelenzustand verdammt treffend, als hätte die ausgeflippte Sängerin sie nur für Julia geschrieben. Irgendwie schienen die Worte immer genau zu dem zu passen, was ihr gerade durch den Kopf ging.
Julia griff nach ihrem Waschbeutel, holte Zahnbürste und Zahnpasta hervor und begann sich die Zähne zu putzen.
Wieder wurde ihr bewusst, wie wahnsinnig die Situation war, in der sie steckte. War das nicht alles zum Verrücktwerden absurd?
Erst als Debbie die Tür aufriss, schreckte Julia aus ihren Gedanken hoch. Mist, sie hatte vergessen abzuschließen. Das schien Debbie nicht weiter zu stören, denn sie stellte sich völlig selbstverständlich ans zweite Waschbecken und breitete sorgfältig ihre Sachen aus. Wie immer am Abend lief sie in dieser schrecklichen grauen Jogginghose aus Schlabberbaumwolle herum, die ihren Körper aussehen ließ, als sei er aus weißer Knetmasse geformt. Kurz: Die Hose schmeichelte ihrer Figur nicht besonders. Ebenso wenig wie das weiße Kapuzenshirt mit der Aufschrift: Der Fehler sitzt meist vor dem Rechner.
Und es war beängstigend, wie Debbie morgens und abends ihre – wie Katie es nannte – rituellen Waschungen vornahm.
Während das Mädchen nun also eine weiße undefinierbare Flüssigkeit über ihr Gesicht verteilte, wobei sie Gummihandschuhe trug, schien sie irgendetwas zu sagen. Zumindest bewegte sich ihr Mund unter der Creme, was ziemlich grotesk aussah, weil das Weiß überall feine Risse bekam.
Julia nahm einen Stöpsel aus dem Ohr. »Was hast du gesagt?«
»Wir sollen alle von der State Police wegen Angela befragt werden.«
Das hatte gerade noch gefehlt. Julias Herz, das sich gerade mal beruhigt hatte, begann wieder schneller zu schlagen.
»Ich habe keine Ahnung«, plapperte Debbie weiter, »was ich sagen soll. Meinst du, ich muss von der Party erzählen?«
»Das weiß doch sowieso jeder. Schließlich hat es jemand am nächsten Morgen sofort dem Dekan gesteckt. Würde mich nur interessieren, wer das war.«
Die Maske noch immer im Gesicht, begann Debbie ihre Zähne mit Zahnseide zu reinigen, sodass sie nichts entgegnen konnte. Ihr Blick veränderte sich nicht, aber irgendetwas an Debbie kam Julia merkwürdig vor. Die Art, wie diese mit starrem Blick ihre Doppelgängerin im Spiegel fixierte.
»Du warst das, oder?« Es war eine wilde Vermutung – etwas, das Julia nicht wirklich bewusst aussprach, aber sie traf ins Schwarze.
Debbie fuhr mit der Seide zwischen die Zähne, als suche sie dort nach den richtigen Worten.
So say goodbye or say forever
Choose your fate, sang Emilie Autumn.
Erst als sie endlich ihre gründliche und langwierige Zahnreinigung abgeschlossen hatte, wandte Debbie sich um. »Ich fand es nach Angelas Verschwinden
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