Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Angeklagten durch, um Görings Einfluss weiter zu verringern. Rosenberg lehnte es wie immer ab, sich an den wenigen verbliebenen gesellschaftlichen Möglichkeiten zu beteiligen – weder bei den Mahlzeiten noch beim Gang in den Gerichtssaal oder bei den Tuscheleien während der Verhandlung. Die anderen hielten mit ihrer Abneigung gegen ihn nicht hinter dem Berg, und er tat es ihnen gleich: Das waren die Männer, die er für das Scheitern des edlen ideologischen Fundaments verantwortlich machte, welches er und der Führer so sorgfältig ausgearbeitet hatten.
Nach wenigen Prozesstagen verfolgte das ganze Gericht einen erschütternden Film, den amerikanische Truppen anlässlich der Befreiung der Konzentrationslager gedreht hatten. Nichts, keine einzige schaurige Einzelheit, wurde unterschlagen: Im ganzen Gerichtssaal herrschte Entsetzen und Ekel über die Bilder der Gaskammern, die Öfen in den Krematorien, in denen halb verbrannte Leichen lagen, die Berge verwesender Toter, die Unmengen von Gegenständen, die den Toten abgenommen worden waren – Brillen, Babyschuhe, menschliche Haare. Ein amerikanischer Kameramann richtete sein Objektiv auf die Gesichter der Angeklagten, die den Film ebenfalls sahen. Rosenbergs bleiches Gesicht ließ auf Entsetzen schließen, und er wandte sofort den Blick ab. Nach dem Film behauptete er unisono mit allen anderen Nazi-Angeklagten, er habe nicht die blasseste Ahnung von der Existenz solcher Dinge gehabt.
Entsprach das der Wahrheit? Wie viel wusste er von den Massenexekutionen an Juden in Osteuropa? Was wusste er über die Todeslager? Rosenberg nahm dieses Geheimnis mit ins Grab. Er hinterließ nichts Schriftliches, keinen eindeutigen Beweis. (Selbst Hitlers Unterschrift tauchte niemals auf einem Dokument auf, in dem es um die Lager ging.) Und natürlich schrieb Alfred im Völkischen Beobachter niemals über die Lager, zumal nach den Richtlinien der NSDAP jede öffentliche Diskussion über die Lager ausdrücklich verboten war. Rosenberg wies das Gericht augenblicklich darauf hin, dass er eine Teilnahme an der folgenschweren Wannsee-Konferenz im Januar 1942 abgelehnt hatte, welche von den Größen der NS-Bürokratie wahrgenommen wurde und auf der Reinhard Heydrich mit lebhaften Worten die Pläne für die Endlösung beschrieben hatte. An seiner Stelle hatte Rosenberg seinen Assistenten Alfred Meyer entsandt. Meyer war über viele Jahre sein enger Mitarbeiter gewesen, und es ist unvorstellbar, dass die beiden nie über die Wannsee-Konferenz gesprochen haben sollten.
Am siebzehnten Tag des Prozesses präsentierte die Staatsanwaltschaft als Beweismittel einen vierstündigen amerikanischen Film mit dem Titel The Nazi Plan , zusammengeschnitten aus verschiedenen NS-Propagandafilmen und Wochenschaumaterial. Der Film begann mit Ausschnitten aus dem Film Der Triumph des Willens von Leni Riefenstahl, in dem Rosenberg, herausgeputzt in seiner prächtigen Parteiuniform, als aufgeblasener Erzähler auftrat. Alfred und die anderen Angeklagten zeigten ungeniert ihre Freude über diese kurze Rückschau auf ihre glorreiche Zeit.
Sobald andere Angeklagte im Gerichtssaal ins Kreuzverhör genommen wurden, war Alfred unaufmerksam. Manchmal zeichnete er Gesichter der Menschen im Gerichtssaal, manchmal wählte er auf seinen Kopfhörern die russische Übersetzung der Verhandlung, grinste und schüttelte den Kopf ob der Vielzahl von Übersetzungsfehlern. Selbst während seines eigenen Kreuzverhörs lauschte er der russischen Übersetzung und protestierte öffentlich gegen die vielen Übersetzungsfehler.
Im Verlauf des Prozesses nahm das Gericht Rosenberg viel ernster, als es die Nazis jemals getan hatten. Oft bezeichnete das Gericht ihn als den führenden Ideologen der NSDAP , als den Mann, der die Blaupause der europäischen Zerstörung gezeichnet hatte, und Rosenberg widersprach kein einziges Mal diesen Anklagepunkten. Man darf sich Görings gemischte Gefühle vorstellen: Einerseits ärgerte er sich über die Rosenberg zugeschriebene führende Rolle im Dritten Reich, und andererseits lachte er sich ins Fäustchen, weil es Rosenberg anscheinend nie in den Sinn kam, dass er damit sein eigenes Grab schaufelte.
Während seiner ausführlichen Verteidigungsrede strapazierte Rosenberg mit seiner ausweichenden Art, seinem pedantischen Tonfall und seiner komplexen Sprache die Nerven der Staatsanwälte bis zum Zerreißen. Sie waren von seiner vorgeblichen Tiefgründigkeit nicht beeindruckt, wie es Hitler einst
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