Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
darüber nachzuforschen, doch er setzte seinen Vorsatz nie in die Tat um. Zu denken, wirklich zu denken, war so schwierig, war so harte Arbeit, als müsste er schwere Koffer auf dem Dachboden hin und her schleppen. Stattdessen wurde Alfred in der Kunst der Verdrängung immer versierter. Er lenkte sich ab. Er stürzte sich in viele Aktivitäten. Und am häufigsten redete er sich selbst ein, dass sich durch unbeirrbares Festhalten an Überzeugungen die Notwendigkeit von Nachforschungen erübrige.
Ein wahrer und edler Deutscher steht zu seinem Gelübde, und als sein einundzwanzigster Geburtstag nahte, erinnerte Alfred sich seines Versprechens an den Direktor, die Ethik von Spinoza zu lesen. Er wollte sein Wort halten, kaufte ein gebrauchtes Exemplar des Werkes und stürzte sich darauf, nur um gleich auf der ersten Seite mit einer langen Liste unverständlicher Definitionen konfrontiert zu werden:
»1.Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.
2. Endlich in seiner Art heißt ein Ding, das durch ein anderes von gleicher Natur begrenzt werden kann. Ein Körper z. B. heißt endlich, weil wir stets einen andern größeren begreifen. Ebenso wird ein Gedanke durch einen andern Gedanken begrenzt. Dagegen wird ein Körper nicht durch einen Gedanken noch ein Gedanke durch einen Körper begrenzt.
3.Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird; d.h. etwas, dessen Begriff nicht den Begriff eines andern Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden.
4.Unter Attribut verstehe ich dasjenige an der Substanz, was der Verstand als zu ihrem Wesen gehörig erkennt.
5.Unter Modus verstehe ich eine Erregung (Affektion) der Substanz; oder etwas, das in einem andern ist, durch welches es auch begriffen werden kann.
6.Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Wesen, d. h. die Substanz, welche aus unendlichen Attributen besteht, von denen ein jedes ewiges und unendliches Sein ausdrückt.«
Wer konnte diesen jüdischen Kram verstehen? Alfred schleuderte das Buch durch das Zimmer. Eine Woche später versuchte er es noch einmal, überschlug die Definitionen und blätterte zum nächsten Abschnitt, den Axiomen, weiter:
»I.Alles, was ist, ist entweder in sich oder in einem andern.
II. Was durch ein anderes nicht begriffen werden kann, muß durch sich selbst begriffen werden.
III. Aus einer gegebenen bestimmten Ursache folgt notwendig eine Wirkung, und umgekehrt: wenn keine bestimmte Ursache gegeben ist, kann unmöglich eine Wirkung folgen.
IV. Die Erkenntnis der Wirkung hängt von der Erkenntnis der Ursache ab und schließt dieselbe ein.
V. Dinge, welche nichts miteinander gemein haben, können auch nicht wechselseitig auseinander erkannt werden, oder der Begriff des einen schließt den Begriff des andern nicht ein.«
Diese Axiome waren ebenso unverständlich, und das Buch segelte wiederum in die Ecke. Später versuchte er es mit dem nächsten Abschnitt, den Lehrsätzen, die sich ihm ebenso wenig erschlossen. Schließlich dämmerte es ihm, dass jeder folgende Abschnitt logisch auf den vorangegangenen Definitionen und Axiomen aufbaute und dass ein weiteres Querlesen nichts brachte. Von Zeit zu Zeit nahm er den dünnen Band zur Hand, blätterte zum Portrait von Spinoza auf der Titelseite und war gebannt von diesem langen, ovalen Gesicht und den riesigen, gefühlvollen, jüdischen Augen mit den schweren Lidern (die ihm ständig in die Augen starrten, egal, wie er das Buch auch drehte). Werde dieses verfluchte Buch los, sagte er sich – verkaufe es (das würde allerdings nichts einbringen, zumal es nach mehrmaligen Wurfversuchen noch ramponierter war als vorher). Oder verschenk es oder wirf es einfach weg. Er wusste, dass er das tun sollte, aber seltsamerweise konnte Alfred sich nicht von der Ethik trennen.
Warum? Nun, das Gelübde war natürlich ein Grund, aber nicht der ausschlaggebende. Hatte der Direktor nicht gesagt, dass man erst ganz erwachsen sein müsse, um die Ethik zu verstehen? Und hatte er nicht eine jahrelange Ausbildung vor sich, bis er ganz erwachsen war?
Nein, nein, es war nicht das Gelübde, das ihn irritierte: Es war das Problem mit Goethe. Er verehrte Goethe. Und Goethe verehrte Spinoza. Alfred konnte sich dieses verfluchten Buches nicht entledigen, denn Goethe hatte es so sehr geschätzt, dass er es ein geschlagenes Jahr lang mit sich herumgetragen hatte. Dieser
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