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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Alfred!«, strahlenden Gesichtern, männlichem Händeschütteln und weiblicher Umarmung empfangen. Schnell führte man ihn in die warme, duftende Küche, wo Kaffee und Streuselkuchen aufgetragen wurden. Augenblicklich schickten sie einen kleinen Neffen los, der Tante Lydia holen sollte, die ein paar Türen weiter die Straße hinunter wohnte. Kurze Zeit später tauchte sie auf, beladen mit Essen für ein großes Festmahl.
    Sein Zuhause war überwiegend so, wie er es in Erinnerung hatte, und ein solches Festhalten an Altbewährtem verschaffte Alfred eine seltene Verschnaufpause von seinem quälenden Gefühl, keine Wurzeln zu besitzen. Der Anblick seines eigenen Zimmers, das nach so vielen Jahren noch so gut wie unverändert war, zauberte einen Ausdruck kindlicher Seligkeit auf sein Gesicht. Er ließ sich in seinen alten Sessel fallen, in dem er immer gelesen hatte, und schwelgte im vertrauten Anblick seiner Tante, die geräuschvoll das Kissen zurechtklopfte und die Daunendecke auf seinem Bett aufschüttelte. Alfred sah sich im Zimmer um: Da war der dunkelrote Gebetsteppich, auf dem Alfred vor Jahrzehnten (wenn sein gottloser Vater außer Hörweite war) einige Monate lang seine Gutenachtgebete verrichtet hatte: »Segne Mutter im Himmel, segne Vater und lass ihn wieder gesund werden, und mach meinen Bruder Eugen gesund, und segne Tante Erika und Tante Marlene, und segne meine ganze Familie.«
    Drüben an der Wand hing das riesige Plakat von Kaiser Wilhelm, immer noch mit stechendem Blick und mächtiger Statur, sich des Wankens der deutschen Streitmacht damals glücklicherweise noch nicht bewusst. Und auf dem Regal unter dem Plakat standen seine Bleifiguren in Reih und Glied: Wikingerkrieger und römische Soldaten, die er nun vorsichtig in die Hand nahm. Er hockte sich hin und inspizierte das kleine Bücherregal, das mit seinen Lieblingsbüchern vollgestopft war. Alfred strahlte, als er feststellte, dass sie noch immer in derselben Reihenfolge standen, in der er sie so viele Jahre zuvor zurückgelassen hatte. Sein Lieblingsbuch, »Die Leiden des jungen Werther«, war das erste, dann kam »David Copperfield« und dann alle anderen Favoriten in absteigender Reihenfolge.
    Beim Abendessen mit Tanten, Onkeln, Neffen und Nichten fühlte sich Alfred immer noch wie zu Hause. Aber als alle gegangen waren, Stille sich über ihn senkte und er sich unter seine Daunendecke legte, stellte sich seine vertraute Anomie wieder ein. Das »Zuhause-Gefühl« begann zu verblassen. Selbst das Bild seiner beiden immer noch lächelnden Tanten, die winkten und nickten, wich in immer weitere Ferne, und zurück blieb nur beängstigende Dunkelheit. Wo war sein Zuhause? Wo gehörte er hin?
    Am folgenden Tag streifte er durch die Straßen von Reval und suchte nach vertrauten Gesichtern, auch wenn alle seine Spielkameraden aus der Kindheit inzwischen erwachsen waren, sich in alle Winde zerstreut hatten und er tief in seinem Herzen wusste, dass er nach Phantomen suchte – nach Freunden, die er wünschte , gehabt zu haben. Er schlenderte zur Oberschule, wo die Flure und die geöffneten Klassenzimmer ebenso vertraut wie abweisend aussahen. Er wartete vor dem Klassenzimmer des Kunstlehrers, Herrn Purvit, der früher immer so freundlich zu ihm gewesen war. Als die Schulglocke läutete, trat er ein, um vor der nächsten Schulstunde mit seinem alten Lehrer zu sprechen. Herr Purvit forschte in Alfreds Gesicht, gab ein Geräusch des Erkennens von sich und erkundigte sich auf so allgemeine Art nach seinem Leben, dass Alfred, der sich verabschiedete, als die Schüler zur nächsten Schulstunde auf ihre Plätze flitzten, bezweifelte, ob er ihn überhaupt erkannt hatte. Als Nächstes suchte er vergeblich nach dem Klassenzimmer von Herrn Schäfer, fand aber das von Herrn Epstein, der nicht mehr Direktor war, sondern Geschichtslehrer wie früher einmal. Mit abgewandtem Gesicht schlich er schnell vorbei. Er wollte weder gefragt werden, ob er sein Versprechen im Falle von Spinoza eingelöst hatte, noch wollte er das Risiko eingehen festzustellen, dass Alfred Rosenbergs Gelübde längst aus Herrn Epsteins Erinnerung verschwunden war.
    Wieder im Freien, wanderte er zum Hauptplatz, wo er das Hauptquartier der deutschen Streitkräfte entdeckte und spontan einen Entschluss fasste, der vielleicht sein ganzes Leben verändern würde. Er sagte dem Diensthabenden auf Deutsch, dass er sich zum Militärdienst melden wolle. Er wurde an den Unteroffizier Goldberg verwiesen, einen

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