Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
massigen Mann mit großer Nase, buschigem Schnurrbart und dem unübersehbaren Stempel »Jude« auf der Stirn. Ohne von seiner Schreibarbeit aufzusehen, hörte der Unteroffizier Alfred kurz an und lehnte dann dessen Ansinnen ab. »Wir sind im Krieg. Das deutsche Heer ist für Deutsche da und nicht für Bürger kriegsbeteiligter, besetzter Länder.«
Niedergeschlagen und vom Benehmen des Unteroffiziers tief verletzt, suchte Alfred ein paar Türen weiter in einem Bierkeller Zuflucht, bestellte sich einen Krug Bier und setzte sich ans Ende eines langen Tisches. Als er seinen Krug zum ersten Schluck hob, bemerkte er einen Mann in Zivilkleidung, der ihn anstarrte. Ihre Blicke trafen sich kurz, und der Fremde hob seinen Krug und nickte Alfred zu. Alfred erwiderte zögerlich und sank dann wieder in sich zurück. Als er ein paar Minuten später aufschaute, sah er den Fremden, einen großen, attraktiven, schlanken Mann mit einem länglichen Schädel. Dieser starrte ihn aus tiefblauen Augen an, erhob sich schließlich, kam mit dem Krug in der Hand zu Alfred herüber und stellte sich vor.
9
AMSTERDAM, 1656
Bento ging mit Jacob und Franco zu dem Haus, das er mit Gabriel bewohnte, und führte sie in sein Arbeitszimmer. Zunächst durchquerten sie ein kleines Wohnzimmer, dessen Möblierung sichtlich die weibliche Hand fehlte – nur eine grobe Holzbank und ein Stuhl, ein Strohbesen in der Ecke und ein Kamin mit einem Blasebalg. In Bentos Arbeitszimmer standen ein grob behauener Schreibtisch, ein hoher Schemel und ein klappriger Holzstuhl. Drei seiner eigenhändig angefertigten Kohlezeichnungen mit Amsterdamer Grachtenszenen hingen an der Wand über zwei Regalen, die sich unter dem Gewicht von einem Dutzend Bücher mit strapazierfähigen Einbänden bogen. Jacob steuerte sofort auf die Regale zu, um die Buchtitel zu inspizieren, doch Bento bedeutete ihm und Franco, schon einmal Platz zu nehmen, während er eilig einen weiteren Stuhl aus dem angrenzenden Zimmer herbeischaffte.
»Machen wir uns an die Arbeit«, sagte er, nahm seine abgegriffene hebräische Bibel zur Hand, ließ sie schwer auf die Mitte des Tisches fallen und schlug sie vor Jacob und Franco auf. Dann besann er sich eines Besseren, ließ die Blätter wieder aufeinander fallen und klappte die Bibel zu.
»Ich will mein Versprechen halten und Ihnen genauestens darlegen, was unsere Thora darüber sagt oder nicht sagt, dass die Juden das auserwählte Volk sind. Aber ich beginne lieber mit meinen wichtigsten Schlussfolgerungen, die auf jahrelangem Bibelstudium gründen.«
Mit Jacobs und Francos Einverständnis begann Bento: »Die zentrale Botschaft der Bibel über Gott lautet, wie ich glaube, dass er vollkommen ist sowie absolute Weisheit besitzt. Gott ist alles und schuf aus sich heraus die Welt und alles auf ihr. Sind Sie damit einverstanden?«
Franco nickte schnell. Jacob überlegte, schob die Unterlippe vor, öffnete die rechte Faust, ließ seine Handfläche sehen und nickte langsam und bedächtig.
»Da Gott definitionsgemäß vollkommen ist und keine Bedürfnisse hat, schuf Er die Welt folglich nicht für sich selbst, sondern für uns.«
Von Franco erhielt er ein Nicken und von Jacob einen verblüfften Blick und nach oben gedrehte Handflächen, als wollte er sagen: »Worauf wollen Sie hinaus?«
Gelassen fuhr Bento fort: »Und da Er uns aus seiner eigenen Substanz heraus geschaffen hat, ist es Seine Absicht, dass wir alle – die wir wiederum Teil der Substanz Gottes sind – Glück und Segen finden.«
Jacob nickte heftig, als hätte er endlich etwas gehört, dem er zustimmen konnte. »Ja, ich hörte, wie mein Onkel vom göttlichen Funken in jedem von uns sprach.«
»Ganz genau. Ihr Onkel und ich sind vollkommen einer Meinung«, sagte Spinoza, und als er ein leises Stirnrunzeln auf Jacobs Gesicht feststellte, beschloss er, sich solcher Bemerkungen in Zukunft zu enthalten – Jacob war zu intelligent und zu misstrauisch, um sich gönnerhaft behandeln zu lassen. Er schlug die Bibel auf und blätterte darin. »Hier, fangen wir mit einigen Psalmen an.« Bento begann, langsam auf Hebräisch vorzulesen, und zeigte mit dem Finger auf jedes Wort, das er für Franco ins Portugiesische übersetzte. Schon nach wenigen Minuten unterbrach ihn Jacob, schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, nein, nein.«
»Nein, was?«, fragte Bento. »Gefällt Ihnen meine Übersetzung nicht? Ich versichere Ihnen, dass …«
»Es sind nicht Ihre Worte«, fiel Jacob ihm ins Wort, »es ist
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