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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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könntest du meine Gedanken lesen.«
    »Aber nein, nein, nein. Aber ich lerne, meine eigenen Gedanken zu lesen, und dank dieser Erfahrung kann ich dich dazu anleiten, deine eigenen Gedanken zu lesen. Das ist die Hauptrichtung meines Fachgebietes.«
    »Ich muss zugeben, dass du der erste Psychiater in meinem Leben bist. Ich weiß nichts über dein Fachgebiet.«
    »Nun, jahrhundertelang waren Psychiater in erster Linie Diagnostiker und betreuten in Krankenhäusern psychotische, fast immer unheilbare Patienten. Aber das hat sich im letzten Jahrzehnt geändert. Die Veränderung begann mit Sigmund Freud in Wien, der eine Gesprächstherapie namens Psychoanalyse erfand, die es uns erlaubt, Patienten zu helfen, psychologische Probleme zu überwinden. Heute können wir solche Leiden wie extreme Angst oder hartnäckige Schwermut oder eine Krankheit behandeln, die wir Hysterie nennen – ein Leiden, bei dem ein Patient psychologisch bedingte, physische Symptome wie Lähmungen zeigt oder sogar blind ist. Meine Professoren in Zürich, Carl Gustav Jung und Eugen Bleuler, sind Pioniere auf diesem Gebiet. Ich bin von diesem Ansatz fasziniert und werde bald in Berlin bei Karl Abraham, einem hoch angesehenen Lehrer, eine weiterführende Ausbildung in der Psychoanalyse beginnen.«
    »Über die Psychoanalyse habe ich schon dies und das gehört. Wie ich hörte, soll es sich um eine neue, jüdische Intrige handeln. Sind deine Lehrer denn alle Juden?«
    »Jung und Bleuler bestimmt nicht.«
    »Aber Friedrich, warum engagierst du dich auf einem jüdischen Fachgebiet?«
    »Es wird so lange ein jüdisches Fachgebiet bleiben, solange wir Deutsche uns nicht einmischen. Oder, um es anders zu sagen: Es ist zu gut, um es allein den Juden zu überlassen.«
    »Aber warum sich damit beschmutzen? Warum ein Student von Juden werden?«
    »Es ist ein wissenschaftliches Gebiet. Hör zu, Alfred, nimm zum Beispiel einen anderen Wissenschaftler, den deutschen Juden Albert Einstein. Ganz Europa liegt ihm zu Füßen – sein Werk wird das Gesicht der Physik für immer verändern. Du kannst bei modernen Physikern nicht von jüdischen Physikern sprechen. Wissenschaft ist Wissenschaft. An der Uni war einer meiner Lehrer für Anatomie ein Schweizer Jude – er lehrte mich keine jüdische Anatomie. Und wäre der große William Harvey ein Jude, würdest du doch trotzdem an den Blutkreislauf glauben, richtig? Wäre Kepler ein Jude gewesen, würdest du doch trotzdem glauben, dass die Erde sich um die Sonne dreht, oder? Wissenschaft ist Wissenschaft, egal, wer der Entdecker ist.«
    »Bei den Juden ist es anders«, warf Alfred ein. »Sie korrumpieren, sie reißen alles an sich, sie saugen alles aus. Nimm die Politik. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie jüdische Bolschewiken die ganze russische Regierung unterminiert haben. Ich habe die Fratze der Anarchie auf den Straßen Moskaus gesehen. Nimm das Bankwesen. Du hast die Rolle der Rothschilds in diesem Krieg erlebt: Sie ziehen die Strippen, und ganz Europa tanzt danach. Nimm das Theater. Sobald sie an die Macht kommen, dürfen da nur noch Juden arbeiten.«
    »Alfred, uns allen gefällt es, die Juden zu hassen, aber bei dir ist eine solche … solche Inbrunst dahinter. Das habe ich bei unseren kurzen Gesprächen so oft festgestellt. Lass mich überlegen … da war dein Versuch, dich beim jüdischen Unteroffizier zum Militärdienst zu melden, und dann Husserl, Freud und die Bolschewiken. Was hältst du davon, wenn wir diese Inbrunst philosophisch untersuchen?«
    »Wie meinst du das?«
    »Eines der Dinge, die ich an der Psychiatrie liebe, ist, dass sie sich im Gegensatz zu jedem anderen medizinischen Fachgebiet sehr nahe an die Philosophie anlehnt. Wie Philosophen stützen wir Psychiater uns auf logische Untersuchungen. Wir helfen Patienten nicht nur, Gefühle zu identifizieren und auszudrücken, wir fragen auch nach dem ›Warum‹. Was ist deren Ursprung? Warum entstehen bestimmte Komplexe im Kopf? Manchmal denke ich, dass unser Fachgebiet eigentlich bei Spinoza begann, der glaubte, das alles, selbst Gefühle und Gedanken, einen Ursprung hat, der durch sorgfältige Nachforschung entdeckt werden kann.«
    Friedrich registrierte Alfreds verblüfften Gesichtsausdruck und fuhr fort: »Du siehst verwirrt aus. Ich will versuchen, es zu erklären. Betrachte unseren sehr kurzen Exkurs zu etwas, was dich verfolgt – dem Gefühl, nicht zu Hause zu sein. Gestern haben wir schon nach wenigen Minuten informellen Mäanderns mehrere

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