Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
an einer Familie. Als wir noch Kinder waren, hast du ständig gesagt, dass du mich heiraten wolltest, aber seit Jahren – seit deiner Bar mitzwa – hast du nie wieder von Heirat gesprochen, und ich habe nie gehört, dass du dich für eine Frau interessiert hättest. Das ist unnatürlich. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du hast dich nie vom Tod unserer Mutter erholt. Du hast sie sterben sehen, hast gesehen, wie sie keuchte, wie sie um Luft rang. Es war schrecklich. Ich weiß noch, wie du auf dem Beerdigungskahn meine Hand hieltest, der ihre sterblichen Überreste zum Friedhof von Beth Haim in Ouderkerk brachte. Den ganzen Tag lang sprachst du kein Wort – du sahst immer nur wie gebannt auf das Pferd, das den Kahn den Kanal entlang zog. Die Nachbarn und Freunde jammerten und wehklagten so laut, dass die holländischen Vögte auf den Kahn stiegen und uns mahnten, leiser zu sein. Und während der ganzen Beerdigungsfeier hattest du die Augen geschlossen, als schliefest du im Stehen. Du hast nicht gesehen, wie alle Leute Mutters sterbliche Überreste sieben Mal umrundeten. Als sie in die Erde gesenkt wurde, musste ich dich zwicken, und du öffnetest die Augen, bekamst schreckliche Angst und wolltest weglaufen, als einer nach dem anderen begann, eine Handvoll Erde auf sie zu werfen. Vielleicht war das zu viel – vielleicht hat der Tod bei dir schreckliche Wunden hinterlassen. Noch Wochen später hast du fast nichts gesprochen. Vielleicht bist du nie darüber hinweggekommen, und nun willst du nicht riskieren, eine andere Frau zu lieben, du willst keinen weiteren Verlust riskieren, keinen weiteren Tod wie diesen. Vielleicht lässt du deshalb nicht zu, dass dir irgendjemand etwas bedeutet.«
Bento schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, Rebecca. Du bedeutest mir etwas. Und Gabriel bedeutet mir etwas. Euch nie mehr wiederzusehen wird wehtun. Du redest, als sei ich kein menschliches Wesen.«
Rebecca sprach weiter, als hätte sie ihn nicht gehört. »Ich glaube, du hast dich von all den Todesfällen nicht erholt. Beim Tod unseres Bruders Isaak zeigtest du so wenig Gefühl, als hättest du es nicht einmal begriffen. Und dann, als Vater von dir verlangte, deine rabbinischen Studien abzubrechen, um das Geschäft zu übernehmen, hast du nur genickt. Mit einem Wimpernschlag hat sich dein ganzes Leben geändert, und du hast nur genickt. Als wäre es nicht wirklich von Bedeutung.«
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Gabriel. »Dass wir unsre Eltern verloren haben, ist nicht die Erklärung. Ich habe in derselben Familie gelebt, unter denselben Todesfällen gelitten, und ich denke nicht wie Bento. Ich bin gern Jude. Ich möchte eine Gattin und eine Familie haben.«
»Und«, sagte Bento, »wann hast du mich sagen hören, dass eine Familie unwichtig wäre? Ich freue mich für dich, Gabriel. Ich freue mich darüber, dass du deine eigene Familie gründen wirst. Es schmerzt mich zutiefst, wenn ich daran denke, dass ich deine Kinder niemals sehen werde.«
»Aber du liebst Gedanken, keine Menschen«, unterbrach Rebecca. »Vielleicht kommt es daher, wie Vater dich erzogen hat. Erinnerst du dich an das Honigbrett?«
Bento nickte.
»Woran?«, fragte Gabriel.
»Als Bento noch klein war, drei oder vier Jahre – ich weiß es nicht mehr genau –, versuchte Vater, ihm mit einer seltsamen Methode das Lesen beizubringen. Später sagte er mir einmal, dass dies vor Hunderten von Jahren eine übliche Unterrichtsmethode war. Er gab Bento ein Brett, auf dem das ganze aleph, bet, gimmel aufgemalt war, und strich Honig darauf. Dann ließ er Bento den Honig abschlecken. Vater glaubte, dass es Bento helfen würde, die hebräischen Buchstaben zu lieben.
Vielleicht hat es zu gut gewirkt«, fuhr Rebecca fort. »Vielleicht sind deshalb Bücher und Ideen von größerer Bedeutung für dich als Menschen.«
Bento zögerte. Alles, was er darauf antworten konnte, würde es nur noch schlimmer machen. Weder seine Schwester noch sein Bruder konnten ihre Seelen für seine Ideen öffnen, und vielleicht war es am Ende auch das Beste. Wenn es ihm gelänge, ihnen zu helfen, die Problematik eines blinden Gehorsams gegenüber der Autorität der Rabbiner einzusehen, stünde ihre Hoffnung auf Zufriedenheit in ihrer Ehe und in ihrer Gemeinschaft auf dem Spiel. Er würde sich ohne ihren Segen von ihnen trennen müssen.
»Ich weiß, dass du wütend bist, Rebecca, und auch du, Gabriel. Und wenn ich es von eurem Gesichtspunkt aus betrachte, verstehe ich auch,
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