Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
weshalb. Aber ihr könnt es nicht von meinem Gesichtspunkt aus betrachten, und es betrübt mich, dass wir uns trennen müssen, ohne uns verständigt zu haben. Auch wenn es nur ein schwacher Trost sein mag, so sind dies meine Abschiedsworte: Ich verspreche euch, dass ich ein heiliges Leben führen und die Worte der Thora beachten werde, indem ich meinen Nächsten liebe, niemandem etwas zuleide tue, dem Pfad der Tugend folge und meine Gedanken auf unseren unendlichen und ewigen Gott richte.«
Doch Rebecca hörte nicht zu. Sie hatte noch etwas zu sagen: »Denke an deinen Vater, Bento. Er liegt nicht neben seinen Frauen, weder neben unserer Mutter noch neben Ester. Er liegt in geheiligter Erde Seite an Seite mit den heiligsten Männern. Er liegt in seinem ewigen Schlaf, geehrt für seine Ergebenheit gegenüber der Synagoge und unseren Gesetzen. Unser Vater wusste von der bevorstehenden Ankunft des Messias, und er wusste von der Unsterblichkeit der Seele. Denke – denke darüber nach, was er von seinem Sohn Baruch halten würde. Denke darüber nach, was er von ihm hält , denn seine Seele stirbt nicht. Sie schwebt über uns, sie kann sehen, sie weiß um die Ketzerei seines auserkorenen Sohnes. Er verflucht dich in diesem Augenblick!«
Bento konnte sich nicht beherrschen: »Du tust genau dasselbe, was die Rabbiner und die Gelehrten tun. Und das ist genau der Punkt, an dem sich ihre und meine Wege trennen. Ihr alle verkündet mit einer solchen Gewissheit, dass die Seele unseres Vaters mich beobachtet und mich verflucht. Von woher kommt deine Gewissheit? Jedenfalls nicht aus der Thora. Ich kenne sie auswendig, und darin steht kein einziges Wort darüber. Es gibt keinen wie immer gearteten Beweis für deine Behauptungen über Vaters Seele. Ich weiß, dass du solche Märchen von unseren Rabbinern hörst, aber siehst du denn nicht, wie sehr das ihren eigenen Zwecken dient? Sie kontrollieren uns mit Furcht und Hoffnung. Furcht davor, was nach dem Tod passiert, und Hoffnung darauf – vorausgesetzt, wir leben auf eine ganz bestimmte Art und Weise, und zwar auf eine, die gut für die Gemeinde und für das Weiterbestehen der Autorität der Rabbiner ist –, dass wir uns im Jenseits eines glückseligen Lebens erfreuen dürfen.«
Rebecca hielt sich die Ohren mit den Händen zu, aber Bento sprach nur noch lauter. »Ich sage dir, wenn der Körper stirbt, stirbt auch die Seele. Es gibt kein Jenseits . Ich werde weder den Rabbinern noch sonst jemandem erlauben, mir zu verbieten, vernünftig zu urteilen, denn nur mittels Vernunft können wir Gott kennenlernen, und dieses Streben ist der einzige wahre Ursprung von Glückseligkeit in diesem Leben.«
Rebecca stand auf und machte sich zum Gehen bereit. Sie trat an Bento heran und sah ihm in die Augen. »Ich liebe dich so, wie du einmal in unserer Familie gewesen bist«, und sie umarmte ihn. »Und jetzt«, sie schlug ihm heftig ins Gesicht, »hasse ich dich.« Sie packte Gabriel an der Hand und zerrte ihn aus dem Zimmer.
18
MÜNCHEN, 1919
Als Alfred am folgenden Morgen in der Bibliothek in der Schlange stand und auf Spinozas Buch wartete, fiel ihm ein Traum ein, den er in der vergangenen Nacht geträumt hatte. Ich gehe mit Friedrich in den Wald. Wir unterhalten uns. Plötzlich verschwindet er, und ich bin allein. Ich komme an anderen Leuten vorbei, die mich anscheinend nicht sehen. Ich komme mir unsichtbar vor. Ich bin unsichtbar. Dann wird es dunkel im Wald. Ich habe Angst. Das war alles, woran er sich erinnern konnte. Es gab noch mehr, das wusste er, aber er konnte es nicht abrufen. Seltsam, sinnierte er, wie flüchtig Träume sein können. Er hatte nicht einmal gewusst, dass er geträumt hatte, bis ihm dieses Bruchstück plötzlich eingefallen war. Die Erinnerung war vermutlich durch die Verbindung zwischen Spinoza und Friedrich ausgelöst worden. Und nun stand er hier in der Warteschlange, um Spinozas Theologisch-Politischen Traktat abzuholen, das Werk, das Friedrich ihm zu lesen empfohlen hatte, bevor er sich an die Ethik wagte. Seltsam, dass er so oft an Friedrich dachte – schließlich hatten sie sich nur zwei Mal getroffen. Nein, das stimmte nicht ganz. Friedrich hatte ihn schon als Kind gekannt. Vielleicht war es ja auch nur die außergewöhnliche, seltsam vertraute Art ihrer Unterhaltung gewesen.
Als Alfred im Büro eintraf, war Eckart noch nicht aufgetaucht. Das war nicht ungewöhnlich, zumal Eckart jeden Abend ziemlich viel trank und am Morgen zu unregelmäßigen Zeiten
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