Das spröde Licht: Roman (German Edition)
Vielleicht hat er sich sogar erkundigt, worum es in der Szene ging, aber wenn es so war, hat er es nicht erwähnt.
Das war das letzte Mal, dass ich beim Augenarzt war. Und es war das letzte Mal, dass ich im Parque Nacional in der Sonne geröstete Maiskolben gegessen habe. Viele Dinge werden immer im Licht meines Herzens stehen: dieser Park in Bogotá, der Central Park in New York, der Botanische Garten von Brooklyn, die Rodin-Skulpturen im Brooklyn Museum, das Meer von Coney Island, das Licht der Guajira, das Licht von Islamorada auf den Florida Keys, das Licht im Medellín meiner Kindheit, die Berge im Osten von Bogotá, das Meer von El Farito in Miami, bevor der Hurrikan (Andrew) die wunderschönen Kasuarinen, die es dort gab, entwurzelte, die Kormorane, die sich auf diesen Kasuarinen niederließen, Saras Lächeln, das Lächeln von Venus und ihren Kindern, die grünen Fischbänke des East River, Jacobos strahlende intelligente Augen, James’ melodische Stimme, Debrah als Ganzporträt (sie ist ja klein), die Tattoos von Pablo, unserem gelehrten Muskelpaket, unerschütterlich wie ein Fels, und Arturos lange, zarte Hände, die den meinen ähnlich sind.
All das, mit jeder Einzelheit, ist tief in mir drin.
zweiunddreißig
Cristóbal leuchtete auf dem Fensterbrett in der Sonne, als würde er von Gottes Finger berührt. Ich trat ins Wohnzimmer, und als ich Sara sah, wusste ich, dass Jacobo tot war. Ich fühlte, wie sich mein Magen verkrampfte, mir wurde übel, und ich sah noch einen rötlichen Blitz. Als ich ein paar Minuten später wieder zu mir kam, fand ich mich auf dem Sofa wieder. Sara saß neben mir. Cristóbal war mit mir gekommen und lag jetzt auf einem Fensterbrett im Wohnzimmer, immer noch voller Licht.
Erst jetzt nahm ich wahr, dass alle im Wohnzimmer versammelt waren. Ich schaute auf die Grenzlinie der Sonne auf dem Holzboden, scharf wie ein Messer.
»Und Pablo?«
»Sitzt schon im Flugzeug«, sagte Sara.
Jetzt mussten wir auf den Anruf warten, dass wir Jacobo abholen könnten. Wir hatten vor, alle vier nach Portland zu fliegen. Pablo musste die Reise zum zweiten Mal machen. Das Messer des Sonnenstrichs auf dem Boden wanderte unmerklich weiter, und der lichte Rahmen auf dem Holz wurde immer kleiner. Cristóbal sprang vom Fensterbrett herunter und ging leuchtend, wie eine Laterne, in Arturos Zimmer.
Im Wohnzimmer und danach am Küchentisch sprachen wir über praktische Dinge. Wir überlegten, was im Fall einer – kaum wahrscheinlichen – strafrechtlichen Verfolgung zu tun sei. Wir sprachen über die Logistik des Todes: die Organisation der Einäscherung, die Kosten. Wir würden die Funeraria Díaz in der 2nd Street beauftragen, und die Trauerfeier würde im kleinen Kreis stattfinden und kurz sein, wie Jacobo es gewollt hatte.
Zum Glück sagte niemand, der Tod sei das Beste für ihn gewesen. Das ist ein widerwärtiger Gemeinplatz, und außerdem konnte keiner wissen, ob es wirklich so war. Wir aßen zu Mittag. Die Sonne schien auf die Bäume im Friedhof und erleuchtete die Madonnenstatuen und Kreuze, aber sie drang nicht mehr in die Wohnung. Aus Portland riefen die Behörden an. Sara führte das Gespräch, und sie machte es gut. Zum Schluss sagte sie, wir würden noch am Abend nach Portland fliegen. Ungefähr um vier rief Pablo von La Guardia an, und wir sagten ihm, es lohne sich nicht mehr herzukommen, denn unser Flug sei um halb sieben.
Sara sagte mir, Michael O’Neal habe am Morgen gegen halb zehn angerufen, und als sie ihm die Nachricht mitteilte, habe er »Yes! Yes!« ausgerufen, zweimal, so wie es die Sportfans tun, wenn ihre Mannschaft gewinnt.
»Armer Michael«, sagte Sara, und mir war nicht klar, ob sich das auf sein Leiden bezog oder weil sie seine Reaktion etwas einfältig fand.
Wir brachten alles hinter uns. Die Asche verstreuten wir an einem sonnigen Nachmittag auf dem East River. Als ich wieder arbeiten konnte und mir das Bild ansah, überarbeitete ich den Schaum – der gut gewesen war, sehr gut, zu gut –, und heute hängt das Gemälde irgendwo in Boston.
Die Zeit verging. Der Rest ist nicht Schweigen gewesen, keineswegs. Das Schweigen kommt erst jetzt.
dreiunddreißig
Ich habe Ángela gebeten, mir die letzten zehn Manuskriptseiten vorzulesen, doch sie hatte Mühe mit meiner Schrift. Jetzt schreibe ich aufs Geratewohl, denn ich kann meine Buchstaben nicht mehr lesen, und so habe ich beschlossen, zum Ende zu kommen und mich damit zu beschäftigen, die Welt mit dem inneren
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