Das spröde Licht: Roman (German Edition)
blinden Nichten ›Schieleulen‹ nannte. Reiner Zufall, hat nichts mit dem Wesen der beiden Familien zu tun.
»Ist alles in Ordnung, Don David?«, fragte Ángela, als sie um halb zehn hereinkam, um mir einen frischen Kaffee zu bringen und die leere Tasse vom Sieben-Uhr-Kaffee mitzunehmen.
»Alles in Ordnung, Ángela. Stell ihn mir auf den Schreibtisch, ja? Ich steh gleich auf.«
»Gut, Señor. Heute kommen Sie wohl gar nicht aus den Federn?«
»Nein, komme ich nicht.«
»Wie viel Zucker?«
»Ein Stück. Wie immer.«
»Ist bei Ihnen wirklich alles in Ordnung?«
»Alles klar, Ángela, völlig klar. Lass mich jetzt bitte in Ruhe, ja?«
»Jawohl, Don Mimoso.«
Ich blieb noch eine Weile liegen und stand schließlich auf, bevor der Kaffee ganz kalt wurde. Ich machte am Schreibtisch Licht, stellte die Lupe ein, ordnete die Papierbögen, tauchte den Montblanc ins Tintenfass und füllte ihn mit Brombeerfarbe. Vor neunzehn Jahren, 1999, war ich von meiner Begegnung mit Anthony Strawinsky auf dem Astor Place nach Hause gekommen und als Erstes ins Bad gegangen, weil ich auf die Toilette musste und um noch eine halbe Tablette Clonazepam zu schlucken. Weil ich so lange weggeblieben war, hatten sich die anderen anscheinend Sorgen gemacht; sie saßen jetzt alle in der Küche am Esstisch.
Als ich aus dem Bad kam, empfing mich das Schweigen, das sich immer einstellt, wenn gerade über einen selbst gesprochen wurde. Ich hatte in den Spiegel geschaut und natürlich sah ich verwahrlost aus, aber ich hatte nicht vor, mich morgens um halb sechs zu rasieren, und das hatte auch keiner von mir verlangt. Arturo und Amber widmeten sich einem verzwickten Spiel mit den Händen, vielleicht eine eigene Erfindung, deren Regeln sie wohl selbst nicht ganz verstanden. Es ging offenbar darum, den Finger zu erraten, den der Gegenspieler als nächsten bewegen würde. Zunächst legte er seine Hände auf den Tisch, mit den Handflächen nach oben, und sie legte ihre Fingerkuppen auf seine. Dann war der Gegenspieler dran, und die Handstellungen wurden gewechselt. Sie spielten schweigend, als mache es ihnen keinen Spaß. Amber, die ganz schmale, lange Hände hatte, sagte plötzlich, »du schummelst« und brach das Spiel ab. Debrah, Venus und James hatten zugeschaut, Sara und ich auch, aber nicht interessiert genug, um eine Frage zu stellen und eine Antwort zu erwarten.
Arturo war schon vierundzwanzig, Amber achtzehn, aber sie waren noch halbe Kinder, worüber ich mich eigentlich freute, denn es hätte nicht zu Arturo gepasst, in seinem Alter schon ein Pflichtmensch zu sein. Sara dachte genauso. Als er mit der Schule fertig war, mit neunzehn, hatte Arturo sich ein Jahr freigenommen und war in der Welt herumgereist: Machu Picchu, Thailand und ähnliche Orte. Er kam zurück und nahm sich noch ein Jahr frei, um eine Rockband auf ihrer Tournee durch die Vereinigten Staaten zu begleiten. Als er dann wiederkam, ging er aufs College, um Kunst zu studieren, und dort lernte er Amber kennen. Amber selbst hatte vor, später an eine der vielen New Yorker Schulen für Modedesign zu gehen.
Pablo hingegen, der sich von Anfang an entschieden hatte, für Jacobo da zu sein, war ein ernster, verantwortungsvoller Typ, der nur wenig in der Welt herumgekommen war. Sein privates Glück waren seine extravaganten Tattoos und, auf der Straße, seine Kamera. Freundinnen hat er viele und keine gehabt; manchmal brachte er eine mit nach Hause und stellte sie uns vor, aber mit keiner blieb er lange zusammen. So wie die Helden der Liebesromane, die meine Großtante Antonia Latorre verschlang (und die sie mir dann lieh), hatte Pablo noch nicht die Frau gefunden, die für ihn bestimmt war, seine andere Hälfte, die Liebe seines Lebens.
dreißig
»Das Mittagessen ist fertig, Don Mimoso. Lassen Sie es nicht wieder stehen«, sagte Ángela von der Tür aus, und ich löschte das Licht und schloss die Augen, um ihnen ein paar Sekunden lang Ruhe zu gönnen. Ich öffnete die Augen wieder und sah vor mir undeutlich das Violett der Bougainvillea-Blüten, die das Fenster umrahmten. Alles wellte sich, verschwamm, löste sich auf.
»Kommen Sie, es wird kalt«, sagte Ángela.
Mittagessen, Siesta, Kaffee. Ich ging mit Ángela in die Bäckerei, weniger als zehn Straßen weit weg, in der es das beste dulce de leche von Kolumbien gibt. Wir kamen an der Kirche vorbei, die beim Umbau durch zu weit auseinander stehende Türme verunstaltet worden war, und Ángela ging einen Moment hinein, um zu
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