Das spröde Licht: Roman (German Edition)
vor den fünf Strängen Stacheldraht stehen blieben und, jeder mit seinem Strick in der Hand, der Kuh nachblickten und dann einander ratlos anschauten. Alles, was Ángelas Sohn erzählt, ist sehr bildhaft. Wenn man Bleistift und Papier nähme, könnte man seine Geschichten zeichnen, während er sie zum Besten gibt. Sie sind immer etwas absurd und komisch, und fast nie erzählt er eine Geschichte mehr als einmal, weil er immer neue kennt, denn er geht mit offenen Augen durchs Leben und prägt sich die Bilder ein.
Ángelas Sohn liebt und bewundert unseren Station Wagon. Ich glaube, er hätte es nicht mit ansehen können, dass Sara bemooste Steine ins Auto lud, Pflanzen mit Erde in Plastikbeuteln und immer wieder Säcke mit Kuhdung, den sie bei den Bauern in der Umgebung kaufte, um die üppige Pracht ihres Gartens zu erhalten. Das Erste, was er tut, wenn wir von einer Reise zurückkommen, ist, das Auto mit Seifenlauge zu waschen und die Fußmatten und Sitze abzusaugen. Juan Pablo oder José Luis oder Juan José pflegt das Auto, als wäre es ein Lebewesen, eine Zuchtstute oder eine Milchkuh.
Holstein.
Am Abend saß ich wieder mit meinem Bier in meinem Regisseurstuhl und wartete auf die Fledermäuse. Und da kamen sie, oder ich glaubte, sie kommen zu sehen, was dasselbe ist. Das Verrückte ist, dass ich, seitdem ich dieses Bild im düsteren Treppenhaus in New York im Kopf habe, beim Anblick von Fledermäusen immer an Amber, Arturos erste Freundin, denken muss.
Was Wörter vermögen. Als ich jung war, habe ich mich im Schreiben versucht, Gedichte, Erzählungen, die gar nicht mal schlecht waren. Damals dachte ich, dass ich von meiner Familie her, in der es Schriftsteller gegeben hatte, mehr Talent zum Schreiben als zum Malen hätte. Und jetzt, da ich es nach so vielen Jahren wieder tue, staune ich von neuem, wie geschmeidig Wörter sind, wie sie aus sich selbst heraus oder fast aus sich selbst heraus das Mehrdeutige der Dinge ausdrücken können, das Wandelbare, das nicht fest Gefügte. Sie sind, wie die Welt ist: in stetem Wandel, wie der brennende Dornbusch, wie ein Haus in Flammen. Trotzdem sehne ich mich nach dem Geruch der Ölfarben zurück oder danach, wie sich ein Kohlestift beim Zeichnen anfühlt, und ich vermisse den Stich im Herzen, den man, wie in der Liebe, spürt, wenn es einem gelingt, mit einer kleinen Mischung aus Öl und Mineralpulver bis an die Grenze der Unendlichkeit vorzudringen und das spröde Licht einzufangen.
Ich glaube, irgendwo habe ich gesagt, Wörter seien etwas Grobes, und jetzt sehe ich, dass ich sage, sie seien geschmeidig. Beides ist richtig. Es hängt nur davon ab, ob sie sich grob geben wollen oder ob sie geruhen, sich geschmeidig zu zeigen.
Sara erwartete mich an der Wohnungstür. Ich schaute in ihre Augen, ob es Neues aus Portland gäbe. Cristóbal strich mir um die Beine. Sara schüttelte den Kopf, begrüßte Amber mit einer Umarmung und sagte, wie hübsch sie aussähe. Dann kam der lange Arturo aus seinem Zimmer und umarmte sie ebenfalls. Ambers Augenlider, olivgrün geschminkt und mit einem schwarzen Rand, reichten dem Jungen bis zur Brust.
neunundzwanzig
Heute Morgen blieb ich länger als sonst unter der Heizdecke liegen, die ich von meinen Söhnen habe. Nicht weil ich niedergeschlagen gewesen wäre, im Gegenteil: Vom Bett aus ließ sich der Tag gut an, dort war ich mit mir und der Welt im Reinen und von einer solchen Ruhe erfüllt, dass es töricht gewesen wäre aufzustehen. Ein solcher Frieden hatte eine Großtante von mir umgeben (die fünfundneunzig Jahre alt wurde, genau wie Ellen Louise Wallace), wenn sie bis neun Uhr morgens oder noch länger im Bett geblieben war und mit ihren sanften, wässrigen blauen Augen in die Welt geschaut hatte. Als Kind hatte mich diese Ruhe, dieser Frieden der alten Frau immer beeindruckt; als ich erwachsen war, dachte ich nicht mehr daran, und jetzt wird die Erinnerung an die Ruhe und den Frieden mit einem Mal wieder wach, mehr noch, ich kann die Ruhe verstehen und erlebe sie selbst.
Was Wörter vermögen. Ellen Louise Wallace verwandelte sich wie durch Magie in meine Großtante Antonia Latorre Estrada, die ledig geblieben war und ihr Leben lang bei ihrer Schwester, meiner Großmutter Natalia, wohnte, häkelte, las und Pielroja rauchte. Und uns liebte.
Ich hatte zwei Großtanten, das Yin und Yang unter allen Verwandten dieser Generation: Antonia, die Großtante mütterlicherseits, und die böse Pepa, Großtante väterlicherseits, die ihre
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