Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
mit erlöschendem Blick der kleinen Giftschlange hinterhersah, die unter einer Kommode verschwand. Im Moment ging er nämlich der Frage nach, wer Joseph Pawalet getötet hatte.
Als der Sarg in die Grube gesenkt wurde, erhoben sich ein paar dünne Stimmen zum „Ave verum“. Dann zogen die Trauergäste am Grab vorbei und warfen ein Schäufelchen Erde und Blumensträuße hinab, die leise pochend auf dem Sargdeckel aufschlugen.
Niemand schien den jungen Mann in dem dünnen Hemd hinter der Eibenhecke zu bemerken. Die Menschen entfernten sich allmählich, und der Totengräber begann, Erdschollen in die Grube zu schaufeln.
Da berührte plötzlich jemand Julius am Arm. Erschrocken fuhr er herum und sah vor sich einen beleibten Mann mit einem ausladenden Backenbart. Er hatte bei der Trauerrede ganz vorn am Grab gestanden, und etwas sagte Julius, dass das der Direktor des Kunsthistorischen Museums war. Er trug einen hohen Zylinder. Dieser Zylinder und vor allem der spitze Bauch in einer engen, schimmernden Weste gaben ihm eher das Aussehen eines Zirkusdirektors. Auf den Schultern seines Samtfracks lag der Schnee einer hartnäckigen Schuppenflechte. Auch sein Gesicht machte einen vertrockneten, ungesunden Eindruck. Seine Augen hingegen waren das genaue Gegenteil. Klein und eisblau und wie zwei nasse Murmeln steckten sie in seinem wüsten Gesicht.
„Sie sind der Sohn?“, fragte er Julius geradeheraus. Seine Stimme stand in einem seltsamen Missverhältnis zu seiner Körperfülle. Weich und kindlich hörte sie sich an, wie von einem sanften Jungen vor dem Stimmbruch.
„Wer will das wissen?“, murmelte Julius erschrocken.
„Der Einzige, dem Pawalet anvertraut hat, dass es Sie überhaupt gibt. Also – sind Sie’s?“
„Woran haben Sie das erkannt?“, flüsterte Julius. Ein Schwindel hatte ihn plötzlich ergriffen, und er hätte sich gern hingesetzt.
„Niemand schleicht sich sonst so verstohlen und heimlich auf eine Beerdigung als der Mörder oder der verlorene Sohn“, sagte der Mann. „Also?“
Julius nickte wortlos. Der andere streckte seine breite Pranke aus und sagte: „Dr. Gustav Kinsky, wenn Sie gestatten. Generaldirektor der Gemäldegalerie des Allerhöchsten Kaiserhauses. Mein Beileid erspare ich mir wahrscheinlich besser.“
Julius ergriff seine Hand, die sich anfühlte wie ein hohler, morscher Baumstamm.
„Was wollen Sie von mir?“, fragte er. „Hat mein alter Herr Sie beauftragt, meine Seele zu retten?“ Er stieß ein Lachen aus, das sich eher anhörte wie ein hilfloses Quaken.
„Die müssen Sie schon selbst retten …“, knurrte Kinsky. „Joseph hat mir schon gesagt, dass Sie eine ganz harte Nuss sind. Deswegen will ich gar nicht lange darum herumreden.“
„Haben Sie mein Erbe in der Jackentasche dabei?“, fragte Julius. Er wollte das leise Gefühl der Hoffnung mit aller Macht zurückdrängen. „Wenn ja, stiften Sie es lieber einem Kloster oder dem Zoologischen Garten. Ich will es nicht.“
Im nächsten Moment hätte er sich am liebsten geohrfeigt für diese Worte. Kinsky sah Julius Pawalet mit ernstem Ausdruck an und presste die Lippen aufeinander. Dann griff der Museumsdirektor tatsächlich in seine Jackentasche und zog etwas hervor, das er ihm in die Hand legte. Es war ein Briefumschlag.
„Das hier wird Sie wahrscheinlich trotzdem interessieren“, sagte er. „ Es ist ein Brief von Ihrem Vater an Sie. Ich kann Ihnen nur raten, ihn zu lesen.“
Damit drehte er sich um und wollte gehen. Der Briefumschlag fühlte sich an wie etwas Fremdes in Julius’ klammen Händen. „Warten Sie, Kinsky!“, rief er ihm hinterher. „Warum haben Sie gerade gesagt, dass nur der Mörder sich so anschleichen würde? Ist er ermordet worden? War deswegen die Polizei da?“
„Ah, das werte Interesse ist also doch geweckt!“ Kinsky sah Julius triumphierend an und zuckte die Schultern. „Darauf kann ich Ihnen leider keine Antwort geben. Abgesehen davon gibt es noch eine Menge andere offene Fragen. Aber das werden Sie dann schon selbst sehen. In diesem Brief steht etwas, das Sie interessieren wird.“
„Woher kennen Sie mich so gut?“, wollte Julius wissen.
Kinsky lachte. „Ihr Vater war mein Freund, Julius. Man erzählt einem Freund ziemlich viel, meinen Sie nicht?“
„Sehe ich so aus, als hätte ich Freunde?“ Julius hustete.
Der Direktor schüttelte bedauernd den Kopf, als hätte er es schon gewusst. Dann trat er eilig den Rückzug an, als wollte er die anderen Trauergäste einholen.
Weitere Kostenlose Bücher