Das Sühneopfer: Historischer Kriminalroman (Schwester Fidelma ermittelt) (German Edition)
schauen noch mal vorbei, wenn wir vom Fest kommen. Wir hoffen, du schläfst dann.«
»Gute Nacht, mathair , gute Nacht, athair «, sagte der Junge ernst, wandte sich um, hüpfte zu seiner Kinderfrau und rief dabei: »Morgen gehe ich reiten, muimme .«
Seine Amme nahm ihn bei der Hand, nickte Fidelma und Eadulf kurz zu und ging mit ihm hinaus.
Einen Moment schaute Eadulf auf die geschlossene Tür. Eines kam ihm in der Sprache, die er angenommen hatte, immer merkwürdig vor. Er und Fidelma wurden mit den förmlichen Worten athair und mathair für Vater und Mutter angeredet,während die zwangloseren Formen muimme und aite , Mama und Papa, den Pflegeeltern vorbehalten waren. Man hatte es ihm schon mehrfach erklärt, doch wirklich verstehen konnte er es nicht.
Die Clan-Gesellschaft der fünf Königreiche gründete sich auf ein System von Pflegschaften. Sobald Jungen oder Mädchen sieben Jahre alt wurden, gab man sie zur weiteren Heranbildung in Pflegschaft. Das wurde in allen Bevölkerungsschichten so gehandhabt, besonders aber in den Familien der Adligen. Adlige nahmen die Kinder anderer Adliger in Pflegschaft; Könige willigten ein, die Kinder anderer Könige oder Adliger an ihrem Hof aufzuziehen. Es gab zwei Arten der Pflegschaft: die aus reiner Zuneigung zur Familie des Pflegekinds und die gegen Entlohnung. Zwischen den Adligen schickte man die Kinder üblicherweise aus reiner Zuneigung in eine andere Familie. Auf diese Weise wurden enge Bande zwischen den herrschenden Familien geknüpft, denn eine solche Beziehung kam einem geheiligten Bund gleich, der ebenso viel galt wie die reinen Blutsbande. In einer Gemeinschaft so eng miteinander verflochtener Sippen glaubte man, auf diese Weise Konflikten und Kriegen vorbeugen zu können.
In vielerlei Hinsicht hielt Eadulf das für ein löbliches System. Eben diese Verbundenheit durch die Pflegschaften hatte wohl auch in der Sprache ihren Niederschlag gefunden, in der die steifere Anrede den leiblichen Eltern galt, während man mit den Pflegeeltern zutraulicher redete.
»Was geht dir gerade durch den Kopf?« Fidelmas Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Lächelnd wandte er sich ihr zu. »Ich überlegte, aus welchem Anlass dein Bruder heute Abend zu diesem Fest geladen hat.«
»Es ist eine Festlichkeit zum Gedenken an einen großenDichter und Kirchenmann unseres Volks. Colmán mac Lénine hieß er. Vor siebzig Jahren ist er gestorben.«
»Sind seine Dichtungen wirklich so eindrucksvoll, dass man ihm noch heute ein besonderes Fest widmet?«
»Nicht wenige sind der Ansicht«, erwiderte Fidelma, »schließlich war er zum Hofdichter von Muman ernannt worden. Vor allem aber meinen die Äbte und Bischöfe, dass wir ihn als Verkünder des Neuen Glaubens ehren sollen. Er hat einst sein Amt am Hofe von Muman aufgegeben und ist als Prediger des Neuen Glaubens durch das Königreich gezogen. Gegen Ende seines Lebens gründete er eine eigene Abtei bei Cluain Uamha.«
»Die Wiese vor der Höhle«, übersetzte sich Eadulf die Ortsbezeichnung. »Ist das nicht die Abtei südwestlich von hier?«
»Alle Achtung, du kennst dich gut aus.«
»Dann kommt wohl auch Abt Ségdae von Imleach zum Fest?«
»Die Feier für Colmán bindet ihn an Imleach. Eine der großen Taten Colmáns war es nämlich, den verloren geglaubten Schrein des heiligen Ailbe von Imleach aufzufinden, der als Erster den Neuen Glauben in unserem Königreich verbreitet hat. Unsere Altvorderen, die Ailbe bestatteten, hatten seinen Schrein unkenntlich gemacht, weil sie fürchteten, die noch Ungläubigen könnten ihn entweihen. Mit der Zeit aber wusste niemand mehr, wo er verborgen war. Colmán gelang es, das Geheimnis zu lüften, und so wird er nun ebenfalls als Heiliger von Imleach verehrt, und alljährlich wird seiner dort feierlich gedacht.«
Eadulf grübelte. »Zu wessen Ehren wird das Festessen heute veranstaltet, für den Mönch oder den Dichter?«
»Mit unserem Fest ehren wir den ganzen Mann«, erklärte Fidelma in vollem Ernst.
Die Kammer wurde plötzlich von einem gleißenden Blitzstrahl erhellt, dem krachend ein Donnerschlag folgte. Das Echo des Donners verhallte in der Ferne. Wenige Augenblicke blieb es still, dann glaubte man Kiesel auf Steinplatten prasseln zu hören. Ein Wirbel grober Hagelkörner trommelte auf die Fensterbrüstung. Eadulf ging zum Fenster. Durch den Hagelschauer war die Ortschaft unten nur noch verschwommen zu erkennen. Doch schon setzte heftiger Regen ein, und die Eisbröckchen
Weitere Kostenlose Bücher