Das Sühneopfer: Historischer Kriminalroman (Schwester Fidelma ermittelt) (German Edition)
verschwanden im Nu. Er schüttelte den Kopf. »Du hast recht gehabt. Eisregen ist das. Hoffen wir, dass auch ich recht behalte und das Unwetter rasch vorüberzieht.«
Bald darauf schritten sie zur Großen Halle hinunter, an deren Portal der junge Krieger Gormán von der Nasc Niadh, der Leibwache König Colgús, Posten bezogen hatte. Freudig blickte er ihnen entgegen; sie kannten sich gut, hatten schon viele Abenteuer gemeinsam bestanden.
»Du nimmst heute an dem Festabend wohl nicht teil?«, begrüßte ihn Eadulf beim Herankommen.
Der junge Mann verneinte. »Heute Abend habe ich den Kürzeren gezogen und muss hier Wache stehen. Aber das macht nichts.« Er öffnete den Türflügel und ließ sie in die Festhalle eintreten.
Es war ein langgestreckter Raum. An den Längsseiten waren Tische bis zu einem erhöhten Podest am hinteren Ende aufgereiht, auf dem eine große Tafel gedeckt war. Dort würden der König und sein Gefolge Platz nehmen. Über ihnen hingen Schilde und Banner, die ihren Rang bezeichneten. An den Tischen saßen bereits auf den Bänken an der Wand die Gebietsherren und Stammesfürsten des Königreichs mit ihren Schildträgern und Ehefrauen.
Fidelma brauchte nicht alle Schilde und Banner zu mustern, um zu erkennen, wer erschienen war. Es gehörte zu denObliegenheiten des Hofmeisters, den Gästen entsprechend der traditionellen Rangfolge die Plätze zuzuweisen, um unwürdigen Streit um den Vortritt von vornherein zu vermeiden.
Auf dem Ehrenpodium saß bereits ihr Vetter Finguine, der junge Thronfolger im Königreich. Sein Platz war zur Rechten des leeren, dem König vorbehaltenen Armsessels. Neben Finguine hatten der Oberste Brehon, Áedo, und sein Stellvertreter Aillín Platz genommen. Der Hauptmann der Leibwache des Königs, Caol, der Einzige, dem es gestattet war, sein Schwert in die Festhalle zu bringen, stand hinter dem leeren Sessel. Links davon hatten sich andere Würdenträger des Hofes mit ihren Damen niedergelassen. Es waren wohl an die vierzig Leute, die zu der Festivität geladen waren. Hier und da freundlich grüßend, gingen Fidelma und Eadulf zu den ihnen zugewiesenen Stühlen auf der linken Seite.
An einer Ecke der Ehrentafel stand der fear-stuic , ein Trompeter, der auf ein geheimes Zeichen sein Instrument an die Lippen hob und drei kurze Trompetenstöße erklingen ließ.
Hinter dem Königsstuhl bewegte sich ein Vorhang, und aus einem verborgenen Zugang erschien die rundliche Gestalt Beccans, des erst kürzlich ernannten rechtaire , des Verwalters und Hofmeisters am Königshof. Er nahm neben Caol Aufstellung und stieß mit seinem Amtsstab dreimal auf den Boden. Alle Versammelten erhoben sich, kurz herrschte absolute Stille, Beccan räusperte sich und verkündete das Nahen des Königs.
Colgú erschien, die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit machte ihn offensichtlich verlegen. Mit dem roten Haar und den markanten Gesichtszügen war er unschwer als Fidelmas Bruder zu erkennen. Beccan stieß abermals mit seinem Stab auf den Boden und begann laut zu intonieren: »Entbieteteuren Gruß Colgú, dem Sohn von Failbhe Flann, Sohn von Áedo Dubh …«
Colgú ließ sich auf seinen Sessel fallen und hob die Hand, um seinem Hofmeister Einhalt zu gebieten.
»Danke, Beccan«, sagte er unwirsch. »Ich bin sicher, meinen Stammbaum kennt hier jeder.«
Beccan stutzte, man merkte ihm an, dass er sich in seiner Würde verletzt fühlte.
»Aber die Hofordnung gebietet …«, verteidigte er sich.
»Wir sind heute Abend unter Freunden, Beccan, da können wir auf die Hofordnung getrost verzichten. Manchmal gehört es sich, das Zeremoniell zu beachten, mitunter aber kann es auch entspannt zugehen.« Der König winkte einen der Diener heran, der mit einem Krug Wein bereitstand. Ehrerbietig füllte ihm der junge Mann den Becher. Colgú stand auf und erhob den Pokal.
»Meine Freunde, heute Abend bin ich es, der euch den Gruß entbietet. Langwährende Gesundheit den Männern, und mögen die Frauen ewiglich leben!«
Das war der uralte Trinkspruch, und die Gäste prosteten dem König zu.
Kaum hatten sich alle wieder gesetzt, öffneten sich Seitentüren, und Bedienstete kamen mit dampfenden Schüsseln und Platten herein. Auf den Servierplatten lagen Wildschweinbraten, Hirschkeulen und Lammrücken. Jedem der Gerichte war ein dáilemain , ein Speisenvorleger, zugeteilt, dem es oblag, gehörige Scheiben von den Braten zu schneiden und den Gästen zu reichen. Deoghbhaire, Mundschenke, achteten darauf, dass die
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