Das Tagebuch der Eleanor Druse
(AKE) und Nahtod-Erfahrungen (NTE) bezeichnen, und diese Phänomene in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eingehend zusammen mit Dr. Susan Blackmore von der University of Surrey in England untersucht. Deshalb kam ich mir jetzt, als ich selbst eine derartige Erfahrung machte, vor wie ein Psychiater, der sich bei einem Kollegen auf die Couch legt.
Und während ich es erlebte, kam mir der Gedanke, dass mein eigenes Intermezzo im Jenseits, abgesehen von geringen Abweichungen, ziemlich genau dem gängigen Klischee entsprach.
Ich wünschte, ich könnte berichten, die Seelen verstorbener Freunde und Verwandter hätten mich freudig in das Licht geleitet, aus dem eine Stimme telepathisch mit mir kommunizierte, mir mein ganzes Leben wie einen rasend schnell ablaufenden Film vorspielte und mir versicherte, ich solle keine Angst haben, denn: Im Jenseits gibt es keine Sorgen, Sally Druse, weder heute noch in alle Ewigkeit, amen.
Aber dem war nicht so. Die Stimme, die ich hörte, als ich mich dem Licht am oberen Ende des Schachts näherte, klang bekümmert, und das Licht verglomm wie ein Holzscheit, dessen Glühen von einer riesigen, unendlich tiefen, samtigen Schwärze aufgesogen wird. Mir war, als wäre ich – ein Geschöpf des Lichts – auf einmal in einem schwarzen Loch oder zwischen den Kristallen eines Obsidians gefangen.
Wieder spürte ich die Gegenwart von etwas Unbeschreiblichem und hörte dessen Seufzen in der schwelenden Asche.
Plötzlich wurde ich nicht mehr weiter emporgetragen, und es herrschte Totenstille. Dann hörte ich abermals die Stimme und hatte erneut das Gefühl, als ob ihre Verzweiflung in meinem nun körperlosen Zustand widerhallte.
Es waren die Schreie eines Kindes, eines kleinen Mädchens, ein verzweifeltes, unartikuliertes Flehen um Hilfe, so verloren und Mitleid erregend, dass ich in Tränen ausgebrochen wäre, hätte ich nur Augen gehabt, um sie zu weinen. Ich bezweifle, dass irgendein Schriftsteller unserer Zeit diese Stimme am oberen Ende des Aufzugschachts hätte in Worte fassen können. Wie soll ich sie also beschreiben? Die Verzweiflung, die sich in diesen markerschütternden Schreien ausdrückte, war die eines menschlichen Wesens, und dennoch war sie nicht von dieser Welt. Die Schreie quälten mich mit Visionen dessen, was hinter dem verlöschenden Licht lag: ein Königreich ewiger Nacht, voller Tod und Dunkelheit, in der die Verdammten sich blind ihre Angst aus dem Leib schrien.
Und irgendwo in diesem sonnenlosen, von Albträumen durchsetzten Ozean, war ganz alleine und verlassen ein Kind.
Obwohl es mir schon Ewigkeiten her zu sein schien, erinnerte ich mich daran, was der nach Alkohol riechende Krankenpfleger gesagt hatte, kurz bevor ich aus dem Leben geschieden war: »Wenn Sie hier bleiben, wacht sie bestimmt gleich auf und fängt wieder an, von Ihnen und dem kleinen Mädchen zu reden.«
Ich hörte eine Glocke. Ein kleines Glöckchen eher, mit dem man im letzten Jahrhundert die Familie zum Tee gerufen hatte.
Welches kleine Mädchen?
HÄSSLICH
Im Schein der letzten schwachen Glut sah ich (mit welchen Sinnesorganen auch immer) ein Wesen, das am oberen Ende des Schachts Wache stand, dem Tor zur ewigen Nacht. Im Halbdunkel konnte ich nur seine Silhouette erkennen: Es hatte den Kopf eines riesigen Schakals oder Ameisenbären, der Körper war halb Mensch, halb Tier. Zähne blitzten kurz auf und verschwanden wieder in der Dunkelheit. Abermals hörte ich die verzweifelten Schreie des Kindes – keine Worte, nur Wehklagen, denen man eine Ewigkeit voll Einsamkeit und Verzweiflung anhörte.
Die Schreie des Kindes weckten Mitleid in mir, aber auch die unsägliche Furcht, dass der Torwächter mich zu einem ähnlichen Schicksal verdammen könnte.
Ich blickte nach unten, wo die Aufzugkabinen kilometerweit unter die Erdoberfläche hinabgesunken waren.
Wieder hörte ich die Glocke läuten, dann ein Piepsen, als hätten Terroristen im Schacht eine Bombe platziert und als wäre es nur eine Frage von Sekunden, bevor der Zeitzünder eine Explosion auslöste und einen Feuerball durch den Schacht rasen ließ.
Ich spürte, wie ein Blitz meinen Körper durchfuhr, und als ich meine Augen öffnete, blendete mich künstliches Licht.
MACHT DER WISSENSCHAFT
DER SILBERRÜCKEN
ICH WUSSTE NICHT, OB ES MORGEN oder Nacht war.
Offenbar befand ich mich in einer von großen runden Deckenleuchten erhellten Zelle ohne Fenster ins Freie. In meinem Hals steckte ein Plastikschlauch, der durch eine
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