Das Tal der Angst
formloses Etwas trugen, das weiland den aufgerichteten Löwen des Capus von Birlstone dargestellt hatte. Ein kurzer Marsch längs der gewundenen Auffahrt, mit Rasen und Eichen ringsum von solcher Art, wie man sie nur im ländlichen England findet; dann eine plötzliche Biegung, und da lag das langgestreckte, niedrige Haus aus König James’ Zeiten mit seinen schmutzigen, leberfarbenen Ziegelsteinen vor uns; zu beiden Seiten erstreckte sich ein altmodischer Garten mit beschnittenen Eiben. Als wir näherkamen, sahen wir die hölzerne Zugbrücke und den schönen breiten Burggraben; er lag so still und klar wie Quecksilber im kalten winterlichen Sonnenschein. Drei Jahrhunderte waren an dem alten Manor House vorübergeflossen, Jahrhunderte der Geburt und des Heimgangs, der Reihentänze und der Fuchsjagden. Sonderbar, daß nun, im hohen Alter, diese dunkle Begebenheit ihren Schatten auf die ehrwürdigen Mauern werfen sollte. Und doch waren diese seltsamen spitzen Dächer und malerisch überhängenden Giebel ein passender Rahmen für finstere und schreckliche Machenschaften. Als ich die tiefliegenden Fenster und die langgestreckte Flucht der mattfarbenen, wasserbeleckten Fassade betrachtete, schien es mir, als könnte es keine passendere Kulisse für solch eine Tragödie geben.
»Das ist das Fenster«, sagte White Mason; »das da unmittelbar rechts von der Zugbrücke. Es steht noch so offen, wie es letzte Nacht vorgefunden wurde.«
»Es sieht ziemlich schmal aus für einen Mann zum Durchschlüpfen.«
»Naja, dick war der Mann jedenfalls nicht. Da brauchen wir nicht Ihre Deduktionen, Mr. Holmes, um das festzustellen. Aber Sie oder ich könnten uns allemal durchquetschen.«
Holmes trat an den Grabenrand und blickte hinüber. Dann untersuchte er die Steinkante und die angrenzende Grasumsäumung.
»Ich hab’s mir gut angesehen, Mr. Holmes«, sagte White Mason. »Dort gibt’s nichts; kein Anzeichen, daß jemand an Land gegangen ist. Aber warum sollte er auch ein Zeichen hinterlassen?«
»Genau. Warum sollte er? Ist das Wasser immer trübe?«
»Meistens etwa so wie jetzt. Der Bach bringt Lehm mit.«
»Wie tief ist es denn?«
»Ungefähr zwei Fuß an den Rändern und drei in der Mitte.«
»So können wir also jeden Gedanken, daß der Mann beim Durchqueren ertrunken ist, vergessen?«
»Allerdings; darin könnte nicht einmal ein Kind ertrinken.«
Wir gingen über die Zugbrücke und wurden von einer wunderlichen, knorrigen, vertrockneten Person eingelassen – dem Butler Ames. Der arme alte Knabe zitterte und war weiß von dem Schock. Der Dorfpolizist, ein hochgewachsener, förmlicher, melancholischer Mann, hielt immer noch Wache im Todeszimmer. Der Arzt war gegangen.
»Irgendwas Neues, Sergeant Wilson?« fragte White Mason.
»Nein, Sir.«
»Dann können Sie jetzt nach Hause gehen. Genug für heute. Wir können ja nach Ihnen schicken, wenn wir Sie brauchen. Der Butler wartet besser draußen. Sagen Sie ihm, er soll Mr. Cecil Barker, Mrs. Douglas und die Haushälterin verständigen, daß wir dann ein paar Worte mit ihnen reden möchten. Und jetzt, Gentlemen, erlauben Sie mir vielleicht, daß ich’ Ihnen zuerst meine Ansicht vortrage, und dann können Sie sich Ihre eigene bilden.«
Er beeindruckte mich, dieser Spezialist vom Lande. Er hatte die Tatsachen fest im Griff und besaß einen kühlen, klaren, nüchternen Verstand, mit dem er es in seinem Beruf noch recht weit bringen sollte. Holmes hörte ihm aufmerksam zu, ohne ein Anzeichen jener Ungeduld, die ein Vertreter der Beamtenschaft nur allzu oft bei ihm hervorrief!
»Ist es Selbstmord oder ist es Mord – so lautet unsere erste Frage, Gentlemen, nicht wahr? Wenn es Selbstmord war, dann müssen wir annehmen, daß dieser Mann zunächst seinen Ehering abgezogen und versteckt hat; daß er dann im Schlafrock runterkam, hier in einer Ecke hinter dem Vorhang Schlamm zertrampelte, um glauben zu machen, jemand habe ihm aufgelauert; daß er das Fenster öffnete und Blut verschmierte auf dem …«
»Das können wir mit Sicherheit ausschließen«, sagte MacDonald.
»Das denke ich auch. Selbstmord scheidet aus. Dann wurde also ein Mord verübt. Was wir herausfinden müssen, ist, ob der Täter von außerhalb kommt oder zum Haus gehört.«
»Na, dann lassen Sie mal Ihre Beweisführung hören.«
»Da gibt es bei beiden Möglichkeiten beträchtliche Schwierigkeiten, und dennoch muß die eine oder die andere zutreffen. Nehmen wir zuerst einmal an, daß eine oder mehrere
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