Das magische Land 1 - Der Orden der Rose
Prolog
Die Kapelle bestand aus Licht. Ihre Wände aus weißem, durchscheinendem Stein nahmen am Tage das Sonnenlicht in sich auf und bei Nacht das Mondlicht. Der Boden war ein schimmerndes Mosaik aus Glas und Gold und Edelsteinen. Leuchtende Pracht erfüllte jedes Fenster: Funkelnde Glassteinchen zogen sich vom Boden bis zur Deckenkuppel wie ein Gewebe aus lebendigem Licht.
Das Licht sang. Es war ein überirdisches Lied, fast zu hoch, um hörbar zu sein — wie das feine Schwingen von Kristall. Für Averil war es ganz deutlich, während niemand anderer es wahrzunehmen schien.
Sie konnte es sogar noch hören, als die Priesterinnen der Insel und ihre Akolythinnen begannen, mit ihren lieblichen, hohen Stimmen die Morgenandacht zu singen. Sie kannte die Worte auswendig. Sie waren so vertraut, dass jede Bedeutung aus ihnen gewichen war, gebündelt an diesem Ort und in dem Licht und der Magie, die ihn erfüllten.
Die Musik strömte aus ihr hinaus, ohne dass sie sich dessen bewusst war. Ihre Augen waren vom Licht geblendet.
Von ihrem Platz auf der Empore aus erschien die dunkle geschnitzte Chorschranke wie ein Symbol für das Gewicht der Erde unter der hochaufragenden Schönheit des verzauberten Glases. Der Anblick war ihr so geläufig wie die Worte der Andacht, aber da war etwas im morgendlichen Licht, das alles neu und anders erscheinen ließ.
Aus smaragdgrünem Gras erhob sich ein Baum mit knorrigem Stamm und gewundenen Asten. Apfel wuchsen an seinen Zweigen, rot und golden und grün. Der Himmel erstrahlte in überirdischem Blau.
Ganz langsam, wenn man den Blick auf dem Glas ruhen und verschwimmen ließ, kam das dahinter verborgene Bild zum Vorschein. In dem knorrigen Baumstamm und den gekrümmten Asten schimmerte etwas, eine Spirale aus Schuppen, die sich den Baum heraufwand. Ganz oben, fast beim strahlenden Gold der Sonne, wandelte sich der Schatten der Baumkrone zu einem Schlangenkopf. Die mit Giftzähnen besetzten Kiefer schlossen sich um den silbernen Apfel des Mondes.
Averil zitterte. Es gehörte zu ihrem Auftrag, jede Form von Magie oder von der Kunst des Erschaffers auf dieser Insel aufzuspüren und zu studieren, aber was sie hier sah, verstörte sie und entzog sich ihrem Verständnis.
Die Morgenandacht war zu Ende. Priesterinnen und Akolythinnen verließen in einer Prozession aus weißen und grauen Gewändern die Kapelle. Averil blieb, wo sie war. Sie spürte die Blicke der Vorbeiziehenden, aber Meditation zwischen den heiligen Offizien war erlaubt. Sie wusste nicht, ob sie das, was sie gerade tat, tatsächlich so bezeichnen würde. Sie erhob sich von ihrem Chorstuhl und ging langsam zum Altar. Er war mit Frühlingsblumen geschmückt; ihr Duft umwogte sie.
AU ihre Sinne waren geschärft, sodass die Süße der Blumen sie schmerzte. Sie richtete den Blick nach oben über den Altar. Unter dem leuchtenden Rad des Rosenfensters erzählte das Triptychon seine Geschichte in Splittern aus Licht. Auf der rechten Seite standen zwölf Ritter, bewaffnet mit Schwertern, Speeren und Schilden, und auf jedem Schild prangte eine blutrote Rose. Auf der linken standen zwölf weißgekleidete Priesterinnen, in der rechten Hand eine weiße Rose und in der linken ein Zepter der Macht.
In der Mitte war das große Opferritual zu sehen, der Junge Gott im Kampf mit der Schlange. Rotes und schwarzes Blut strömte aus tausend Wunden. Graue Schnüre wanden sich um die goldene Rüstung. Weiße Zähne schimmerten und verspritzten blaugrünes Gift. Der Junge Gott kämpfte mit zerbrochenem Schwert. Die Schlange stieß auf den ungeschützten Hals hinab.
Ihr Auge war golden, genau wie die Rüstung des Jungen Gottes. Es rollte auf Averil zu.
Sie schnappte nach Luft. Ihre Knie schmerzten: Sie war zu Boden gestürzt. Der Zauber war gebrochen. Die Schlange war weder lebendig noch frei. Sie war nichts als Glas in dem Fenster über ihr, gefärbt und gemalt und mit Magie versiegelt.
Sie konnte ihre Präsenz noch spüren. Der Schock war nicht, dass sie böser war als alles Böse, die Inkarnation des Chaos — sondern, dass sie es nicht war. Sie war alt, ja uralt. Aber in ihr lag eine tiefe Weisheit und eine feinsinnige Heiterkeit.
Averil riss ihren Geist fort von diesen Gedanken, die so blasphemisch waren, dass ihr davon übel wurde. Das war das Böse der Schlange: Lüge und Versuchung. Sie war eine Akolythin der Gläsernen Insel, Nachfolgerin der Zwölf Priesterinnen, die über den Jungen Gott gewacht und die Schlange in ihre
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