Das Tao der Physik
Annahme
eines linearen Zeitflusses. Der ungewöhnliche Aspekt zeigt
sich in Diagrammen mit Positron-Linien. Der mathematische
Formalismus der Feldtheorie läßt für diese Linien zwei Deutungsmöglichkeiten zu: als Positron, das sich in der Zeit vorwarts bewegt, oder als Elektron, das sich in der Zeit rückwärts
bewegt! Mathematisch sind beide Interpretationen identisch.
Der gleiche Ausdruck beschreibt ein Antiteilchen, das sich von
der Vergangenheit in die Zukunft bewegt, oder ein Teilchen,
das sich von der Zukunft in die Vergangenheit bewegt.
Unsere beiden Diagramme kann man damit so auffassen, als ob
sie den gleichen Prozeß abbildeten, der sich in verschiedenen
Richtungen der Zeit entwickelt. Beide Diagramme können als
Streuung von Elektronen und Photonen gedeutet werden, aber
in einem Prozeß bewegen sich die Teilchen in der Zeit vorwärts,
im anderen rückwärts.* Die relativistische Theorie der Teilchen-Wechselwirkungen zeigt somit eine vollständige Symmetrie in bezug auf die Richtung der Zeit. Alle Raum-Zeit-Diagramme können in beiden Richtungen gelesen werden. Für jeden Prozeß gibt es einen äquivalenten Prozeß mit umgekehrter
Zeitrichtung, in dem die Teilchen durch Antiteilchen ersetzt
sind.*
* Die gestrichelten Linien bedeuten immer Photonen, ob sie sich nun inder
Zeit vorwärts oder rückwärts bewegen, denn das Antiteilchen eines Photons
ist wieder ein Photon.
Um zu sehen, wie dieser überraschende Zug der subatomaren Welt unsere Ansichten von Raum und Zeit beeinflußt, betrachten wir den Prozeß im nächstfolgenden Diagramm. Lesen
wir es auf konventionelle Art von unten nach oben, so deuten
wir es wie folgt: Ein Elektron (dargestellt durch eine geschlossene Linie) und ein Photon (dargestellt durch eine gestrichelte
Linie) nähern sich einander; das Photon erzeugt in Punkt A ein
Elektron-Positron-Paar; das Elektron fliegt nach rechts, das
Positron fliegt nach links; das Positron kollidiert mit dem ursprünglichen Elektron in Punkt B, und sie vernichten sich gegenseitig unter Erzeugung eines Photons, das nach links fortfliegt. Alternativ können wir den Prozeß auch als die Wechselwirkung zwischen den beiden Photonen und einem einzelnen
Elektron deuten, das in der Zeit zuerst vorwärts, dann rückwärts und dann wieder vorwärts fliegt. Für diese Deutung folgen wir nur auf dem ganzen Weg den Pfeilen auf der Elektron-Linie. Das Elektron fliegt zu Punkt B, wo es ein Photon
aussendet, seine Richtung umkehrt und zeitlich rückwärts nach
Punkt A fliegt; dort absorbiert es das ursprüngliche Photon,
kehrt wieder seine Richtung um und fliegt vorwärts durch die
Zeit. In gewissem Sinn ist die zweite Deutung viel einfacher, da
wir nur der Weltlinie eines Teilchens folgen. Andererseits stellen wir sofort fest, daß wir damit in ernste sprachliche Schwierigkeiten geraten. Das Elektron fliegt »zuerst« zum Punkt B,
»dann« zum Punkt A; doch die Absorption des Photons bei A
erfolgte vor der Emission des anderen Photons in B.
* Neuere
Versuche deuten an. daß dies für einen bestimmten Prozeß mit »super-schwacher« Wechselwirkung möglicherweise nicht zutrifft. Abgesehen
von diesem Prozeß, bei dem die Rolle der Zeit-Umkehr-Symmetrie noch
nicht klar ist, zeigen alle Teilchen-Wechselwirkungen eine grundsätzliche
Symmetrie in bezug auf die Richtung der Zeit.
Streuprozeß mit Photonen, Elektronen und einem Positron
Diese Schwierigkeiten vermeidet man am besten dadurch,
daß man Raum-Zeit-Diagramme wie das obige nicht als chronologische Aufzeichnungen des Weges von Teilchen durch die
Zeit sieht, sondern als vierdimensionale Strukturen in der
Raum-Zeit, die ein Netzwerk zusammenhängender Ereignisse
darstellen, das keine definitive Richtung der Zeit enthält. Da
sich alle Teilchen in der Zeit vorwärts und rückwärts bewegen
können, genauso wie im Raum nach rechts und links, ist es nicht
sinnvoll, auf den Diagrammen eine Zeitrichtung festzulegen.
Sie sind einfach
vierdimensionale Landkarten, die in der
Raum-Zeit so ausgelegt sind, daß wir von keinerlei zeitlicher
Reihenfolge sprechen können. Mit den Worten Louis de Broglies:
In der Raum-Zeit ist alles, was für einen jeden von uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellt, en bloc gegeben . . . Jeder Beobachter entdeckt sozusagen beim Verstreichen seiner Zeit immer neue Schnitten der Raum-Zeit, welche
ihm als aufeinanderfolgende Aspekte der materiellen Welt erscheinen, obwohl in Wirklichkeit die Gesamtheit der Ereignisse, die die Raum-Zeit
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