Das Testament des Gunfighters
stumm wie ein Fisch geblieben.
Nachdem sie das Boulder House verlassen hatte, hatte sie zwei Stunden damit verbracht, nach dem Mann zu suchen, den sie im Gemischtwarenladen getroffen hatte. Von Glenn Peters hatte sie erfahren, dass Lassiter den Stein an sich genommen hatte.
Leider war er nirgends zu finden.
Bei ihrer Suche hatte Marjorie herausgefunden, dass Lassiter ein Zimmer im Silver Chain Hotel bewohnte. Der Portier, ein ehemaliger Kunde aus ihrer Hurenzeit namens Jackson, hatte ihr mitgeteilt, Lassiter sei am Morgen aus der Stadt geritten, und zwar auf dem Trail, Richtung Norden. Jackson vermutete, dass Lassiter zur Bahnstation nach Benson wollte.
Marjorie hatte schon mit dem Gedanken gespielt, selbst ein Zimmer im Silver Chain zu nehmen, aber die Idee schließlich als zu kostspielig verworfen. Die Zimmerpreise in Tombstone waren unverschämt hoch. Mit ihrem Ersparten konnte sie keine großen Sprünge machen. Im Übrigen gab es da noch Carson, der sie auf der Ranch erwartete.
Apropos Carson. Sogleich hielt sie nach dem Hund Ausschau. »Carson! Carson!«
Nichts.
Marjorie unterdrückte einen Fluch. Seit dieser struppige Hundeteufel das Kästchen ausgegraben hatte, schien er nicht mehr alle Stacheln am Kaktus zu haben. Er war unberechenbar geworden.
»Carson! He, Carson!«
Ihre Rufe verhallten ungehört. Nichts regte sich. Alles blieb still.
Marjorie gab es auf. »Gut, wie du willst.«
Sie brachte die Fuchsstute in den Stall. In der Box zündete eine Karbidlampe an, stellte sie auf einen schulterhohen Querbalken und rieb das Pferd trocken. Anschließend kellte sie aus dem Tank einen Eimer voll Wasser und stellte ihn unter die Futterraufe. Während die Stute gierig soff, dachte Marjorie schon wieder an dieses geheimnisvolle Testament.
Sie ärgerte sich. Bisher war sie keinen Schritt vorangekommen, um das Geheimnis zu lüften. John Macon spielte den Stummen. Lassiter, der den Stein eingesteckt hatte, war fortgeritten. Alles, was sie besaß, war die Fotografie eines Mannes mit dem Revolver in der Hand.
»Ich bin eine Närrin«, sagte sie plötzlich.
Die Stute wandte den Kopf und schnaubte.
»Ja, du hast richtig gehört, meine Liebe.« Marjorie lehnte sich an den Stützbalken. »Ich bin eine gottverdammte Närrin! Wieso gebe ich mich eigentlich mit diesem Hokuspokus ab? Warum tue ich nicht, was mir gefällt? Bram Boomer und John Macon können mir mit ihrem Firlefanz den Buckel runterrutschen!«
Das Pferd schüttelte sich schnaubend, als wolle es ihr beipflichten. Dann tauchte es seinen Kopf wieder in den Eimer.
Jetzt weiß ich’s genau , dachte Marjorie. Ich werde die Sache einfach vergessen, so als wäre der ganze Zauber gar nicht geschehen. Was kümmert mich das Testament eines Mannes, den ich überhaupt nicht kenne? Ich habe mein eigenes Leben.
Um ihren Entschluss zu bekräftigen, hämmerte sie eine Faust gegen den Pfeiler.
Durch die Dielenritzen des Heubodens rieselte Staub auf sie herab. Ein Teil davon gelangte in ihren Mund, und sie musste husten. Als sie vor die Tür trat, um sich den Dreck aus den Sachen zu klopfen, hörte sie ein leises Scharren, nicht allzu weit weg.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie einen Schatten, der wie der Blitz hinter dem Wohnhaus verschwand. Ein Schatten auf zwei Beinen! Damit schied Carson aus.
Marjorie erschrak. Um ein Haar wäre ihr ein Aufschrei entschlüpft. Unversehens schlug ihr Herz wie eine Feuerglocke. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Das Gefühl, dass nachts ein Unbekannter auf ihrem Grund und Boden umherstrich, machte ihr Angst.
Der Revolver! Rasch lief sie in den Stall zurück.
Die Stute stampfte beunruhigt auf der Stelle. Das Tier schien zu merken, dass etwas nicht in Ordnung war.
Marjorie zwang sich, die Ruhe zu bewahren. Auf ihrer Ranch befand sich eine unbekannte Person. Alarmstufe eins! Die Gestalt war vor ihr geflüchtet, als sie aus dem Stall kam.
Das konnte alles Mögliche bedeuten, nur nichts Gutes. Ein vagabundierender Satteltramp, ein ausgestoßener Apache oder ein mexikanischer bandido auf Beutezug. Marjorie wusste es nicht. Aber sie wusste, dass der Fremde sich vor einer Begegnung mit ihr scheute.
Am liebsten hätte sich Marjorie irgendwo im Heu verkrochen und gewartet, bis der Tag anbrach. Doch als sie den geladenen Feuerspucker in der Hand spürte, schöpfte sie neuen Mut.
»Ich habe keine Angst«, sagte sie laut.
Hochaufgerichtet trat sie ins Freie. Ein kühler Luftzug schlug ihr ins Gesicht. Den Colt in
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