Das Testament des Satans
dir bringen. Im Tod werden wir wieder vereint sein …
Alessandra
Kapitel 91
An Bord von Yannics Boot
Am frühen Nachmittag
Meine Augen sind blind vor Tränen, während ich den wogenden Horizont vor mir absuche, von Nordwest rechts hinter mir über die tosende See im Süden hinweg bis nach Nordost links hinter mir. Wasser, nichts als Wasser.
Ich blicke hinauf zur Rute, an der das Segel festgemacht ist. Von dort oben hätte ich einen besseren Blick. Ich könnte vielleicht sogar den Mont-Saint-Michel sehen, auf den ich, von der Strömung der Flut mitgerissen, mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes zutreibe. In weniger als einer halben Stunde bin ich wieder dort, woher ich geflohen bin. Noch fünf Seemeilen, vielleicht weniger.
Erneut blicke ich hinauf zum Mast.
Vergiss es, Sandra. Nicht in diesem Sturm. Das Boot giert wie wild in den hohen Wellen von achtern. Die Böen werden dich aus der Masttopp fetzen und über Bord wehen, und das Boot wird kentern. Falls du den Aufprall auf dem Wasser überlebst, wirst du hinter Yannic hertreiben und in einigen Stunden an Land gespült werden. Ob das allerdings in der Bretagne oder in der Normandie sein wird, kann ich nicht sagen. Der Kenterpunkt der Tide rückt immer näher, bald wird sich die Strömung wieder umkehren und Yannic und mich aus der Bucht herausspülen. In Richtung Cornwall und weiter in den Atlantik.
Die Minuten vergehen. Ich blicke nach vorn.
In mir breitet sich eine erschreckende Leere aus. Das Meer besitzt eine ungeheure Gewalt, die ich mir zu eigen machen will, um Kraft zu schöpfen, aber es gelingt mir nicht.
Das blauviolette Leuchten über dem Mont spiegelt sich wider an den tief hängenden Wolken. Ein geradezu apokalyptisches Bild.
Ich blicke hoch zur Mastspitze. Auch dort züngelt nun ein Elmsfeuer. Jeden Augenblick kann ein Blitz ins Boot einschlagen.
Grausige Aussichten!
Das Segel droht zu reißen unter dem Ansturm der Gewalten.
Ruhig, Sandra, bleib ganz ruhig!
Plötzlich höre ich einen lauten Knall, und das Boot beginnt zu zittern.
Was war das?
Ich spähe über die Bootskante. Steuerbord: nichts. Backbord: Treibgut. Die Planken eines im Sturm gesunkenen Schiffes. Sie schrammen am Boot vorbei, ohne dass es leck schlägt. Ich atme auf. Mein Ruder ist unbeschädigt.
Ich beobachte die Wellen um mich herum.
Kein neues Treibgut, auch kein schwarzer Habit, nichts.
Aber meine Sicht reicht auch nicht weiter als bis zum nächsten Wellenkamm.
Bin ich an Yannic vorbeigesegelt?
Was soll ich tun? Wenden und gegen den Wind zurücksegeln?
Das Elmsfeuer züngelt jetzt wie eine blaue Stichflamme zum Himmel empor. Ich fühle ein Knistern auf der Haut, als ob jeden Augenblick die Hölle um mich herum mit Donnergetöse explodieren und in einem grellen blauvioletten Feuerball untergehen würde.
Plötzlich entdecke ich etwas auf den Wellen, einen schwarzen Schemen, gar nicht weit entfernt an Steuerbord.
Hastig krieche ich zum Mast, um mich an der Klampe festzuhalten und hochzuziehen, damit ich nicht über Bord geschleudert werde.
Ich starre auf die Wellen. Nichts.
Was immer ich gesehen habe – es ist verschwunden.
Mein Herz rast, und meine Knie zittern so sehr, dass ich beinahe stürze. Ich atme tief durch.
Was war es? Ein schwarzer Habit? Oder Seetang?
Ich starre in die Wogen, bis mir die Augen tränen.
Da ist es wieder!
Der schwarze Schemen gleitet über einen Wellenkamm und verschwindet erneut.
»Yannic!«
Zu weit entfernt.
Ich muss das Boot wenden und zu ihm …
Da ist es wieder!
Wie erstarrt umklammere ich den Mast. Es ist nicht Yannic. Sondern nur ein paar Ellen schwarzer Wollstoff. Sein Habit?
O Gott, tu mir das nicht an!
»Yannic!« , schreie ich panisch und höre mich selbst kaum. Erschöpft sinke ich am Mast hinunter auf den schlingernden Boden. Ich bin am Ende meiner Kräfte, als ich plötzlich …
Da ist er. Direkt vor mir.
Lebt er noch? Ich weiß es nicht.
Hastig binde ich mich mit dem Seil am Mast fest und ziehe die Korkweste aus. Ich befestige die Weste am Ende des Seils und werfe sie in den Wind, damit die Böen sie zu Yannic tragen.
Die Weste schlägt neben ihm auf.
Nichts. Er bewegt sich nicht.
Ich gebe nicht auf. So schnell ich kann, hole ich die Weste ein und werfe sie ein zweites Mal. Die Böen wirbeln sie durch die Luft und schleudern sie hinter Yannic in die Wellen.
Langsam ziehe ich sie ein. Sie treibt an ihm vorbei, aber wieder bewegt er sich nicht.
Kein Lebenszeichen.
Nochmal!
Die
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