Wie ein Hauch von Zauberblüten
Der neue Kranke trug die Nummer 431.
Man hatte sie ihm mit weißer Fettkreide groß auf die Brust geschrieben, und nun brüllte er aus Leibeskräften, ballte die Fäuste, riß den Mund so weit auf, daß er in dem verzerrten Gesicht wie eine rote Höhle wirkte, und die Tränen liefen dick aus seinen Augen.
Der Kranke war siebzehn Monate alt, aber er sah aus wie ein Greis.
Seine Mutter hielt ihn auf dem Arm und versuchte erst gar nicht, ihn zu beruhigen. Sie grinste nur verlegen, wehrte die Ärmchen ab, wenn der Junge um sich schlug, und wartete geduldig, daß sie aufgerufen würde. Vor der großen weißen Kreidenummer auf der schmalen, schwarzen Brust schien die Mutter große Ehrfurcht zu haben; sie achtete sorgfältig darauf, daß der Kleine sie nicht verwischte.
Die Frau war eine Herero, trug die langen, weiten, bunten, an der Taille gekräuselten Baumwollröcke und den malerischen Turban aus vielfach verschlungenen Kopftüchern, wie es seit fast hundert Jahren Mode war bei den Herero-Frauen in Südwest-Afrika. Damals hatten deutsche Missionare die fast nackten Eingeborenen überredet, europäische Kleidung zu tragen. Die Hereros fanden Gefallen an den bunten Stoffen, entwickelten daraus eine eigene Tracht und verstanden sie fortan als Symbol ihrer Nationalität. Nur eine Herero-Frau kleidete sich so; undenkbar, daß eine Damara, eine Hottentottin, eine Bergdama, eine Nama, eine Himba vom heißen Kaokoveld oder gar eine Buschmännin diese Röcke anzog; die stolzen Hereros hätten es als eine Entehrung ihres Stammes angesehen.
Da die Frau zum Doktor gegangen war, hatte sie ihre Festtagskleidung angezogen: einen Rock mit flammend roten Blumen auf leuchtend gelbem Untergrund und eine Bluse mit breiten blauweißen Streifen und weiten Puffärmeln. Strahlend weiß war das kunstvoll geschlungene, mit verschiedenfarbigen Rosenblättern bedruckte Kopftuch. Um sich für diesen Tag besonders schön zu machen, hatte sie ihre Wangen mit brauner Schuhcreme eingerieben; – nun sah der Kopf aus, als sei er aus einem auf Hochglanz polierten, tiefbraunen Wurzelholz geschnitzt.
Dr. Oppermann hatte die Untersuchung eines Patienten beendet. Der ausgedörrte Alte, ein mit lederner Schrumpelhaut überzogenes Gerippe, war ein Damara. Er arbeitete auf einer Farm als Roder und klagte über Husten. Er war zwar gesund, das wußte er, jedoch – es bringt immer zwei freie Tage ein, wenn man zum Doktor nach Outjo geht. Man kann sich in der Stadt Tabak und Bier kaufen, gemütlich im Schatten sitzen, Männer aus anderen Gegenden treffen, viel Neues aus der anderen Welt hören, und kann selbst erzählen, wie es in Okaua aussieht, dem Dorf, in dem man lebt und schon neunzehn Enkelkinder um sich versammelt hat. So hatte er dem Doktor reichlich vorgehustet und hatte sich wie in Schmerzen gekrümmt, um dann mit geradezu strahlendem Gesicht auf das Urteil des Arztes zu warten. Das Gesicht mit den langen weißen Bartstoppeln erinnerte an einen verschrumpelten Igel.
»Du bist ein Gauner!« sagte Dr. Oppermann. Er blinzelte dem Alten zu, und der Igel blinzelte zurück. Er sprach Afrikaans, die alte Burensprache, welche auch die Eingeborenen gelernt hatten. In vielen Gegenden, vor allem in dem Dreieck Windhoek – Swakopmund – Outjo war es auch nicht ungewöhnlich, daß man von Hereros, Ovambos oder Damaras auf deutsch angesprochen wurde, denn viele der riesigen Farmen befanden sich in deutscher Hand, deutsche Händler versorgten das Land mit ihren Lieferungen, per Lastwagen, mit der Eisenbahn oder mit eigenen Flugzeugen. Die Großväter der Eingeborenen, die noch unter der deutschen Kolonialherrschaft aufgewachsen waren, hatten die deutsche Sprache ihren Söhnen, und diese hatten sie der nächsten Generation vererbt. So lebte auch der alte Mann mit dem geheuchelten Husten in einer Hütte, über deren Eingang er ein Schild gehängt hatte, auf dem ›Reiterhaus‹ stand. An langen Abenden erzählte er den Dorfbewohnern immer wieder von seinem Vater, der als Gefreiter der Schutztruppe am 16. März 1908 unter dem Befehl des Hauptmanns von Erckert den aufständischen Simon Köper in der Schlacht bei Seatsub geschlagen hatte.
»Ich gebe dir einen Hustensaft«, sagte Dr. Oppermann und schrieb ein Rezept aus. »Aber zur Strafe, weil du mich belügen wolltest, nicht umsonst. Du wirst ihn in der Apotheke kaufen, selbst bezahlen und mir vorzeigen! Kommst du nicht mit dem Hustensaft zurück, untersuche ich dich nie wieder.«
»Es ist gut!« sagte der Alte
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